Publikationen zu Methoden der Sozialwissenschaften stellen klassischerweise qualitative und quantitative Untersuchungsmethoden bzw. Monografie und Statistik gegenüber. Dieser Gegensatz wird oft unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten interpretiert, als ginge es, abhängig von den zur Verfügung stehenden Mitteln, um die Wahl zwischen einem intensiven (viele Informationen über eine kleine Fallzahl) oder einem extensiven Wissen (wenige Informationen über eine große Fallzahl). Selbst wenn diese Interpretation nicht komplett falsch ist, so hat sie doch den Nachteil, dass sie zur Annahme verleitet, beide Formen der Aufzeichnung wären ihrer Natur nach gleich und die beängstigende Entscheidung zwischen ihnen vermeidbar, wenn wie von Zauberhand ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung stünden.
Der vorliegende Artikel schlägt hingegen vor, diese beiden Wissensformen in Bezug zu zwei grundverschiedenen Logiken zu setzen, die jeweils sowohl eine politische Dimension (Mit welchem Modus der Verwaltung des Sozialen stehen sie jeweils in Verbindung?) als auch eine kognitive Dimension haben (Welche Modi der Verallgemeinerung und Kumulation von Wissen werden in diesen Enquêten, die ja nur eine Auswahl des zu erforschenden Ganzen betreffen, vorausgesetzt?).
Beschränkt man sich, wie so häufig, auf die rein kognitive Perspektive, läuft man Gefahr, sich entweder in wechselseitigen Anklagen oder ökumenischen Kompromissen zu verfangen, die diese Methoden nebeneinanderstellen, ohne dabei ihrer Heterogenität Rechnung zu tragen. Die Untersuchung der gegenseitigen Vorwürfe hat den Vorteil, dass durch die Karikatur des gegnerischen Standpunktes die Punkte deutlich werden, in denen sich die beiden Erkenntnismethoden unterscheiden. Was ist ein Individuum? Wie kann man Äquivalenzen zwischen mehreren Individuen herstellen, um daraus eine Kategorie zu bilden? Was ist die Gesamtheit, aus der man schlussfolgert?
Die erste Methodengruppe hat im Verlauf der Geschichte verschiedene Formen angenommen: Monografien, Studien von Gemeinschaften, Lebensgeschichten, detaillierte Beschreibungen von Interaktionen, Konversationsanalysen… So erfinden Le Play und seine französischen und englischen Anhänger im 19. Jahrhundert die Arbeitermonografien. Sie erfassen die Familienbudgets inklusive der monetären und nicht-monetären Einnahmen und Ausgaben. Sie versuchen jedoch nicht, diese zu summieren, aus ihnen Mittelwerte zu berechnen oder die durchschnittlichen Budgets anhand verschiedener Kategorien zu vergleichen. Dafür untermauert das empirische Material die Rechtfertigung der patriarchalen Familie und eine Kritik der Lohnarbeit, die die traditionellen Solidaritätsbande zerreißen würde.2 Die von der Chicago School im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entwickelten Untersuchungen zu Stadtvierteln und städtischen Gemeinschaften greifen ausführlich auf direkte Beobachtungen zurück. Ihr Ziel ist es, die Auswirkungen der rasanten Urbanisierung der US-amerikanischen Industriezentren und den Zustrom von Einwanderern aus Mittel- und Osteuropa zu beschreiben. Der Rückgriff auf lokal stark eingegrenzte Analysen oder Lebensgeschichten (der „polnische Bauer“ von Thomas und Znaniecki)3 rechtfertigt sich allein durch den vermeintlich exemplarischen Wert der beschriebenen Fälle. Im gleichen Zeitraum werden Studien zu anonymisierten Kleinstädten durchgeführt, deren Fantasienamen ihren typischen oder durchschnittlichen Charakter widerspiegeln: Yankee-City, Middletown. Als ab den 1940er Jahren der Trend quantitativer Studien – verkörpert durch Lazarsfeld oder Stouffer (der „amerikanische Soldat“) – wesentlich an Bedeutung gewinnt, bleibt mit den Studien der Interaktionisten (Goffmann, Becker) oder der Ethnomethodologen (Cicourel, Garfinkel) eine andere Richtung bestehen, die in der Tradition der Chicago School der Verwendung von Statistiken gegenüber kritisch eingestellt ist.4
Wenngleich all diese Untersuchungen grundverschieden sind, so teilen sie dennoch die Ablehnung umfassender Pauschalisierung und die Sorge, so nah wie möglich an der unmittelbaren Erfahrung und der Beziehung zwischen Befragendem und Befragtem zu bleiben, um in einer möglichst detaillierten und kritischen Weise die Bedingungen der Erhebung wiederzugeben. Der Hauptvorwurf gegen die statistischen Verallgemeinerungen und Summierungen lautet, dass Sachverhalte zusammengefasst werden, die sich „in Wahrheit“ unterscheiden. Sie stehen Kodierungsverfahren mehr oder weniger ablehnend gegenüber, da durch sie Facetten ausgeblendet werden, die sich nur aus der ein oder anderen Form von Vertrautheit mit den Personen erschließen, sei es dem Familienleben bei Le Play oder bei Cicourel5 die Art und Weise, wie Menschen von ihren Handlungen berichten. Durch die Kodierung wird nicht nur ein Teil der Beobachtungen verflacht und geht verloren, sondern es werden auch Aspekte von Situationen, Personen und Gruppen, die als Ganzes betrachtet und umfassend beschrieben und vestanden werden sollen, nach bestimmten Kriterien fraktioniert und isoliert.
Die zweite Gruppe von Methoden definiert sich nicht nur – wie oft angenommen – durch Quantifizierung, sondern durch ein anderes Konzept von Ganzheit (als Vollständigkeit) und durch die Tatsache, dass die Einzelfälle analytisch und nicht nur durch umfassende Beschreibung verglichen werden können. Auch wenn sie die Budgets von Arbeiterfamilien in Zahlen fassen, gehören die Enquêten von Le Play eher zur ersten Gruppe, da diese Budgets nie miteinander verglichen werden, wie das kurze Zeit später beispielsweise Engel oder Halbwachs tun.
Die Hauptkritik der Verfechter statistischer und repräsentativer Methoden an Monografien ist ihre Unfähigkeit zur Verallgemeinerung (incapacité à généraliser), d. h. mit einem gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit auf die Eigenschaften des Ganzen (als Vollständigkeit definiert) zu schließen. Der Übertragbarkeit des Wissens und der Möglichkeit seiner Extrapolation kommt in diesem Fall eine entscheidende Bedeutung zu.
Diese rein auf die kognitive Dimension beschränkten Formen gegenseitiger Kritik konnten lange Zeit fortbestehen und beide Techniken koexistierten, indem sie sich entweder wechselseitig ignorierten oder in einen künstlichen Gegensatz stellten. Es fehlte eine Reflexion, die diese beiden Pole in Beziehung zu umfassenderen und vor allem sehr verschiedenen Vorstellungen des Sozialen setzte. Hierfür bieten die Arbeiten von Boltanski und Thévenot sehr aufschlussreiche Begriffe an.
Die Gegenüberstellung dieser klassischen wechselseitigen Anklage hat gezeigt, dass sich beide Methoden nicht, wie manchmal angenommen, im Modus von Klein und Groß oder Mikro und Makro gegenüberstehen, sondern vielmehr als verschiedene Arten der Konstruktion von Ganzheiten. Beide Ansätze werfen sich wechselseitig vor, Aspekte eines „Ganzen“ zu verlieren – von dem sie allerdings ein sehr unterschiedliches Verständnis haben. In dem einen Fall ist es die Ganzheit einer „Person“, einer Situation, eines Bedeutungszusammenhangs, welche die statistische Kodierung, dem gängigsten Bild nach, verstümmelt, verkürzt, reduziert. Im anderen Fall handelt es sich hingegen um die „Bevölkerung“, deren Grenzen klar definiert sind und die als Kategorie der Logik fungiert, als Menge separater Elemente (Die Zugehörigkeit zu dieser Einheit kann zwar, wie bei unscharfen Gruppen, probabilistisch und unsicher sein, die Logik ist trotzdem die gleiche).
Der Gegensatz zwischen den beiden Modi der Enquête verweist also auf den doppelten Sinn der Bildung von Kategorien des Denkens (Wie lässt sich die soziale Welt beschreiben?) und Handelns (Wie lässt sich die soziale Welt verändern?). Verschiedene Studien aus der Kognitionspsychologie haben gezeigt, dass ein Kind mentale Kategorien, wie beispielsweise sprachliche Kategorien, entweder durch Ähnlichkeit (verschiedene Dinge werden mit einem als typisch erachteten Ding gleichgesetzt) oder durch Nachbarschaft (Dinge, die zusammengehören) erlernt, oder aber auf der Grundlage identischer formaler Kriterien, d. h. durch die Wahl eines Aspekts (Form, Farbe, Größe, Dicke etc.), mit denen Dinge unter einem bestimmten Gesichtspunkt oder Kriterium miteinander vergleichbar gemacht werden.6
Frühere Arbeiten zur sozioprofessionellen Nomenklatur in Frankreich haben beispielsweise aufgezeigt, dass in den von den Statistikern verwendeten Taxonomien de facto beide Arten der Kategorienbildung zum Tragen kommen.7 Dieses Nebeneinander, das unter Theoretikern (die im Allgemeinen klar getrennte Kriterien wünschen) immer wieder zu Irritationen führt, spiegelt die Tatsache wider, dass die Professionen selbst aus zwei unterschiedlichen Traditionen historisch gewachsen sind: einer Logik des Berufsstands auf der einen Seite (in Verbindung mit einer noch familiengeprägten, handwerklichen Form der Produktion) und einer Logik qualifizierter Beschäftigung auf der anderen Seite. Letzteres findet sich zum Beispiel in Entgelt- oder Tariftabellen wieder und geht aus der Entsprechung zwischen Kompetenzen (zertifiziert durch Bildungsabschluss) und Stellen (laut der rationalen Arbeitsorganisation in großen Industrieunternehmen) hervor.
Das Beispiel des Aufbaus sozioprofessioneller Klassen ist besonders interessant, weil es in sich sowohl eine kognitive als auch eine politische Dimension der Konstruktion von Kategorien trägt. Es verweist auf zwei Modi der Verallgemeinerung, die von Boltanski und Thévenot als „häuslich“ beziehungsweise „industriell“ beschrieben werden.8 Im Mittelpunkt des ersten stehen Nähe, Vertrautheit, die direkte Beziehung zwischen Menschen, die seit langem miteinander verkehren, beispielsweise in der Familie, auf dem Bauernhof, in der Werkstatt oder im Laden. Ihr Wissen ist das Ergebnis einer langen Tradition, eines praktischen Wissens (savoir-faire), dessen Elemente sich im Verlauf eines kontinuierlichen Lernprozesses aggregieren, und zwar durch Ähnlichkeit oder Nähe und nicht durch systematisches Denken. Es werden darin viele Züge des monografischen Wissens erkennbar, – sei es das Wissen des familienorientierten Notabeln Le Play im 19. Jahrhundert, des Anthropologen, der die Verwandtschaftsstrukturen der Amazonasbewohner studiert, des Soziologen aus Chicago, der Kellner beschreibt, oder des Psychoanalytikers, der sich mit familiären Neurosen befasst.
Der zweite als „industriell“ bezeichnete Modus der Verallgemeinerung bezieht sich auf formale Konzeptualisierungen, die die Wissenschaft den Formen der Serienproduktion zur Verfügung stellt und die aufgrund von Normen, kodifizierten Standards oder technischen Zeichnungen eine identische Reproduktion ermöglichen. Die damit verbundenen Wissensbestände können systematisiert, kodifiziert und durch Lehrbücher schulisch vermittelt werden. Sie sind losgelöst von Personen, Traditionen und Geschichte. Der aktuelle Wissensstand schließt die neuesten Weiterentwicklungen ein. Was er nicht beinhaltet, ist das ständig wiederholte Rekapitulieren früheren Wissens, wie es in gelehrten Traditionen der Fall ist. Die Ingenieurswissenschaften erfordern übertragbare, reproduzierbare und anhand geregelter Modifizierungen verallgemeinerbare Formen. Hier wird die Rolle statistischer Modelle für die Sozialreformer des frühen 20. Jahrhunderts deutlich, die die ersten Sozialversicherungssysteme einführten; ebenso aber auch für die Produzenten der ersten Meinungsumfragen und Marktanalysen in den USA der 1930er Jahre9; und für die Makroökonomen, die in den 1950er Jahren die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung entwickelten10 oder für die Wirtschaftsmathematiker von heute. In all diesen scheinbar sehr unterschiedlichen Fällen soll das Wissen eine Transformation der sozialen Welt nach standardisierten Mustern untermauern.
Man könnte versucht sein, in diesem Zusammenhang von „großem Maßstab“ oder „Großserien“ zu sprechen und diese statistischen Methoden dem kleinen Maßstab der Monografie, der Feldstudie, der Werkstatt, die ein Paar Schuhe produziert, oder den Lokalstudien gegenüberzustellen. Es ist richtig, dass die großen Statistikbehörden, in dem Maße wie sie die Erhebungen im industriellen Maßstab produzieren, in einem Gegensatz zum Sozialforscher (enquêteur) im Alleingang stehen, der vertiefende Interviews durchführt.
Das hieße jedoch zu verkennen, dass letzterer auf seine Art genauso generalisiert, und dass die von ihm erstellten Studien immer den Anspruch auf Verallgemeinerung haben. Viele monografische Arbeiten werden mit Titeln versehen, die zwei Dimensionen beinhalten: ein allgemeines Problem, gefolgt vom Untertitel „am Beispiel von…“ – also eine Einzelfallstudie, die gleichzeitig allgemeine Tragweite beansprucht. Es ist diese Rhetorik des Exemplarischen, die Formen der Konstruktion und Verbreitung von Wissen stützt, die in ihrem Anspruch selbst viel zu allgemein sind, um als „kleine“ Formen behandelt zu werden. Sie kommen immer dann zum Tragen, wenn Menschen durch familiäre Bande, Nachbarschaft und oft auch über einen langen Zeitraum mit anderen Menschen involviert sind, was alles in allem noch immer recht häufig vorkommt.
Die Entterritorialisierung der Beschreibung der sozialen Welt
Beide Modi der Konstruktion von Allgemeinheit (généralité) konnten und können heute noch unterschiedlich kombiniert werden. Die klare Unterscheidung, die wir bis jetzt vorgenommen haben, erlaubt es uns im Folgenden, diese Formen des Kompromisses an zwei Beispielen zu analysieren: Das erste stammt aus der Geschichte der amtlichen Statistik, das zweite aus neueren Entwicklungen der Methoden in der mathematischen Statistik.
Bis in die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts war das aus dem Deutschen kommende Wort „Statistik“ gleichbedeutend mit der Beschreibung eines Staates unter verschiedenen Aspekten (Recht, Sitten, Geschichte, Klima, Wirtschaft, Regierungsform etc.), ohne die Nutzung von Zahlen in irgendeiner Weise zu privilegieren. Diese territorial gebundene „Statistik“ richtete sich an den Fürsten, der dieses Gebiet regierte, und war anfangs nicht für Vergleiche zwischen Staaten bestimmt. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden die ersten Tableaus, in denen die Staaten noch in narrativer Form mit ihren deskriptiven Ebenen verknüpft waren, zu Vergleichszwecken erstellt. Bereits das reichte aus, um heftige Kritik vonseiten der Puristen der ersten „Statistik“ nach sich zu ziehen, die argumentierten, dass es nicht möglich sei, Unvergleichbares zu vergleichen: Hier wird der klassische Vorwurf der Gleichmacherei deutlich. Die Statistik des 18. Jahrhunderts, die zum Beispiel noch zwischen 1800 und 1806 in der berühmten, vom französischen Innenminister Chaptal beauftragten „Statistik der Präfekten“ genutzt wurde, fällt noch unter das, was oben als „Monografie“ bezeichnet wurde.11
In Frankreich kommt der Bedeutungswandel des Wortes „Statistik“ deutlich um 1806 zum Vorschein, als Napoleon erkennt, dass die Statistiken, welche ihm die Präfekten lieferten, für seine Pläne einer einheitlichen Verwaltung des Kaiserreichs im Rahmen der Kriegswirtschaft und der Kontinentalsperre unbrauchbar sind. Er ordnet daher Zählungen und umfassende Landwirtschafts- und Industrieenquêten an, die Produktionszahlen von Weizen, Kohle, Eisen usw. liefern. Allerdings zeigen sich die Schwierigkeiten für diese Summierungen deutlich: Lassen sich Produkte unterschiedlicher Qualität (Weizen oder Kohle) zusammenzählen?
Dennoch bleiben in der amtlichen Statistik - allein schon aufgrund der sehr lokalen Datenerhebung - lange Zeit Spuren dieser Herkunft erhalten. So sind die Industrieerhebungen von 1841 und 1861 nicht vollständig und ihre Ergebnisse werden schlussendlich wie monografische bzw. wie exemplarische Fälle verwendet. In gleicher Weise werden die Ergebnisse der Volkszählungen bis in die 1940er Jahre im Wesentlichen in der Gliederung nach administrativen Einheiten (Departements) präsentiert: Die Statistik bleibt sehr territorial verankert. Erst in den Jahren nach 1945 sorgt die Vereinheitlichung und Ausweitung einer nationalen sozioökonomischen Terminologie (in Tarifverträgen festgelegte Lohn- und Gehaltskategorien, Einstufungsraster für Abschlüsse, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung etc.) dafür, dass die territoriale Dimension nach und nach aus dem zentralen statistischen Beschreibungsapparat des Staates verschwindet. Ihr werden fortan spezialisierte Räume gelassen, weit ab von den Orten, an denen allgemeine Debatten stattfinden.
Dabei scheint die Entterritorialisierung der Beschreibung der sozialen Welt mit ihrer Verwaltung verbunden zu sein. Das wird zum Beispiel an der parallelen Entwicklung von Techniken der Armutsverwaltung und den Sozialeenquêten Ende des 19. Jahrhunderts deutlich.12 Bei ersteren erfolgt ein schrittweiser Übergang von der Unterstützung im vertrauten, lokalen Rahmen durch die Pfarreien und Kommunen hin zu einer staatlichen Sozialversicherung, die auf rechtlichen Vorgaben und Standards beruht, die den Personen Kategorien von Leistungsberechtigten zuweisen. Zur gleichen Zeit findet bei den Erhebungen über Arbeitermilieus oder Armut ein Übergang von der Monografie im Sinne Le Plays oder der Stadtbeschreibung (Booth, Rowntree, Chicagoer Schule) hin zu Erhebungsmethoden mit repräsentativen, über das ganze Land verteilten Stichproben statt. Letztere setzen voraus, dass Listen mit äquivalent gemachten Fällen erstellt werden (Auswahlgrundlage); die Stichprobemethode setzt ebenfalls ein gut funktionierendes Zufallsverfahren sowie hinsichtlich der Ergebnisse eine Berechnung von Konfidenzintervallen voraus. Dieser Apparat findet erst in den 1920er und 1930er Jahren allgemeine Verbreitung, also über ein Jahrhundert nach der Erfindung der ihnen zugrunde liegenden wahrscheinlichkeitstheoretischen Konzepte. Das zeigt deutlich, dass der Repräsentativitätsanspruch an die Gesamtkohärenz eines politischen und kognitiven Programms gebunden war: im vorliegenden Fall der Apparat der Sozialversicherung, dann (allerdings erst später) nationale Marktstudien und politische Umfragen.13
Es kann als ein Beleg für das oben Beschriebene genommen werden, dass Erhebungen mittels Umfragen, die auf nationaler Ebene mit repräsentativen Stichproben durchgeführt werden, relativ ungeeignet sind, regionale und erst recht lokale Gegebenheiten zu beschreiben. Sie sind für die Vermessung einer implizit homogenisierten Gesamtheit im nationalen Rahmen konzipiert und können bestenfalls Ungleichheiten zwischen Großregionen sichtbar machen, welche als Ausschnitte des nationalen Ganzen gedacht sind und nicht als unterschiedliche Elemente, die spezifische Identitäten besitzen.
Oft können derartige Erhebungen dezentralisiert werden, damit sie vor Ort von den regionalen Zweigstellen der großen nationalen Behörden, die sie konzipiert haben, durchgeführt werden. Diese Zweigstellen können die Ergebnisse allerdings nicht zur Beschreibung der Regionen, die sie abdecken, nutzen, da die Erhebungen auf dieser Stufe nicht mehr repräsentativ sind. In einem solchen Fall geht die territoriale Aufgliederung vom gesamten Staat aus und nicht von lokal begründeten Elementen. Genau das passierte 1789, als Frankreich in identische Departements aufgeteilt wurde, während das Königreich zuvor größtenteils noch eine Anordnung von getrennt gedachten Provinzen gewesen war. Die Heterogenität war nicht nur faktisch verankert, sondern sie war vielmehr das Ergebnis einer Zusammenfassung, die von unten ausging und nicht von oben wie nach 1789. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Frankreich zweifellos noch wenig homogen. Es wurde nun aber, und das ist wesentlich für die sich herausbildenden Sozialwissenschaften, von allen Regimen, die im Anschluss an Napoleon aufeinander folgten, als homogenisierte nationale Einheit gedacht, selbst dann, wenn wie wir gesehen haben, die Statistikbehörden noch lange die Spuren ihres territorialisierten Ursprungs beibehielten.
Umgekehrt können die obigen Ausführungen durch die Schwierigkeit veranschaulicht werden, die Europäische Union als Ganzes zu denken: Im Hinblick auf Ländervergleiche stellt jeder Nationalstaat eine kulturelle Einheit im Sinne des monografischen Wissens und nicht von statistischer Totalisierung dar, und es ist immer noch schwer vorstellbar, eine für ganz Europa gültige Totalisierung vorzulegen, ohne zwischen den einzelnen Staaten zu unterscheiden. Da in diesem Fall keine politische Arbeit geleistet wurde, die vergleichbar mit der in Frankreich von 1789 wäre, ist ein solcher Typus europäischer Enquêten derzeit noch undenkbar.14
Das zeigt sich auch, wenn man die Vergleichbarkeit von Ergebnissen im Hinblick auf migrantische Bevölkerungsgruppen innerhalb eines Staates infrage stellt. Die Statistiker zögern dann, Personen „unterschiedlicher Kulturkreise“ in ihre vergleichenden Übersichten aufzunehmen. Der Begriff „Kultur“ verweist oft auf Identitätsfragen, die mit der Forschungsmethode der Monografie zusammenhängen.
Ein weiterer hervorstechender Aspekt in der Entwicklung der Statistik innerhalb der sozialwissenschaftlichen Methoden ist der schrittweise Übergang von einer Semantik der sozialen Gruppe (z. B. Territorium) zu einer Semantik der Variable. Auf diese Weise bewahren zahlreiche statistische Untersuchungen, seien sie auf Beschreibungen oder Vergleiche von sozialen Kategorien, Familientypen oder Regionen gerichtet, weiterhin gewissermaßen die Spur monografischer Methoden. Umgekehrt sind die Untersuchungen, die Einflüsse zwischen Variablen hervorheben (beispielsweise unter Zuhilfenahme der heute sehr beliebten und aus der Varianzanalyse abgeleiteten ökonometrischen Methoden) vom Standpunkt der Kriterienbildung wesentlich reiner, weil sich hier keine Frage mehr nach der Allgemeinheit einer Situation oder einer Person stellt.
Die in Frankreich ebenfalls recht neue Entwicklung anderer statistischer Methoden (Faktoranalyse, Korrespondenzanalyse), die beispielsweise häufig in der Soziologie eingesetzt werden, impliziert eine Art Kompromiss, der sich in den Begriffen des oben ausgeführten Gegensatzes beschreiben lässt. Auch wenn sie die Verwendung eines Datensatzes mit klar kriterienbasierten Variablen umfassen, zielen sie dennoch darauf ab, Ganzheiten zumindest teilweise im Sinne der Monografie zu rekonstruieren. Sie tun dies entweder mittels Typologien (Segmentierungsmethoden) oder durch die Beschreibung von Räumen, deren Zonen spezifische Übereinstimmungen aufweisen. Die Sprache solcher Analysen ist oftmals eine Art Wiederherstellung der monografischen Beschreibungsform, insofern sie darauf abzielt, umfassende Übereinstimmungen auf Personen oder Gruppen zu gründen, und nicht auf Variablen, wie das bei den vorher erwähnten reineren Methoden der Fall ist. Diese Analysen lassen sich im Übrigen gut mit echten Monografien zusammenbringen, wie beispielsweise die Handwerkerstudien von Bernard Zarca zeigen.15
Die hier vorgeschlagene Unterscheidung zwischen zwei relativ reinen Formen der Herstellung von Allgemeinheit erlaubt es, den Modus der gegenseitigen Verurteilung (zu der die Gegenüberstellung von Forschungsmethoden oft führt) zu verlassen. Dadurch wird eine umfassendere Perspektive auf unterschiedliche Formen der Wissensproduktion und -kumulation möglich, die nicht von den Gefügen von Menschen und Dingen getrennt werden kann, in die sie eingebettet sind.16