Wir danken hiermit den Verlagen Éditions La Découverte und Les Presses des Mines für die freundliche Erlaubnis, Desrosières‘ Texte zu übersetzen. Unser Dank gilt auch Lennart Fey für wichtige Recherchen im Archiv des Centre Marc Bloch für diesen Einführungstext sowie an Simone Gruhl für die Übersetzung der Beiträge. Für die Finanzierung der professionellen Übersetzung sind wir dem Centre Marc Bloch dankbar. Theresa Wobbe danken wir für ihre wichtigen Hinweise zur Rezeption von Desrosières’ Werk im deutschen Kontext.
Verfehlte Begegnungen und die abwesende Anwesenheit eines Klassikers
Während Alain Desrosières‘ (1940–2013) Werk für die Geschichte und Soziologie der Statistik im französischsprachigen Raum grundlegend ist und seine Bedeutung in den Jahren nach seinem Tod stetig wächst,1 ist seine Rezeption außerhalb französischsprachiger Diskurse und insbesondere in Deutschland auf ein kleines und meist frankophones Fachpublikum beschränkt geblieben. Diese spärliche und späte Rezeption im deutschsprachigen Raum hat unterschiedliche Gründe. Sicherlich könnte dazu der Umstand beigetragen haben, dass ein Großteil von Desrosières‘ Forschungsbeiträgen in Vorträgen formuliert wurde, die erst später in Form von Aufsatzsammlungen gebündelt erschienen sind.2 Monografien hat er in seiner Laufbahn zwei veröffentlicht. Eine über die statistische Nomenklatur der Catégories socio-professionnelles gemeinsam mit Laurent Thévenot (1988) und sein Hauptwerk La politique des grands nombres. Histoire de la raison statistique (1993). Ein weiterer Umstand mag die enge Verbindung seiner historischen und soziologischen Arbeit mit der amtlichen Statistik gewesen sein, vor allem im Rahmen des Institut national de la statistique et des études économiques (INSEE – Nationales Institut für Statistik und Wirtschaftsstudien). Es ist möglich, dass hier die Spezialfragen des französischen politischen Systems gerade die Aspekte seiner Forschungspraxis überdeckten, die eine einzigartige Verbindung zwischen amtlicher Statistik, Soziologie und Wissenschaftsgeschichte, zwischen epistemischen und politischen Interventionen und Reflexionen hervorbrachten. Die misslungene Rezeption in der deutschsprachigen Soziologie – bis auf einige Ausnahmen im Bereich der Quantifizierungs- und Klassifikationssoziologie3 – sowie in der Wissenschaftsgeschichte bleibt dennoch erklärungsbedürftig, zumal es einige Gelegenheiten dazu gab. Zwar existierten Bezüge und ein reger Austausch zwischen den Statistikhistoriker*innen aus Paris und denjenigen am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin.4 Anlässlich der deutschen Übersetzung von La politique des grands nombres wurde im Mai 2006 eine gemeinsame Veranstaltung am deutsch-französischen Forschungszentrum für Sozial- und Geisteswissenschaften Centre Marc Bloch in Berlin organisiert.5 Allerdings hat dieses Ereignis in der deutschen Forschungslandschaft nicht weiter gefruchtet; jedenfalls scheint es nicht zu einer breiteren Rezeption, jenseits von persönlichen Netzwerken, geführt zu haben. Neben dem offensichtlichen Fehlen eines deutschen Wikipedia-Eintrags6 ist die Rezeptionsgeschichte der deutschen Übersetzung symptomatisch für diese merkwürdige Form anwesender Abwesenheit. Die Übersetzung von Desrosières‘ Hauptwerk erschien 2005 – zwölf Jahre nach der französischen Erstausgabe – unter dem Titel Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte des statistischen Denkens bei Springer. Bis auf den oben erwähnten Workshop blieb diese Veröffentlichung ohne Echo.7 Ob der Grund für diese Nicht-Begegnung Fragen des Timings oder der Diskurskonjunkturen waren, kann hier nicht geklärt werden. Die eigentümliche Kontextlosigkeit der Übersetzung selbst wirft genug Fragen auf. Während die 1998 von Camille Naish verfasste englische Übersetzung des Werkes unmittelbar in einen bestehenden internationalen Diskurs zu Geschichte, Epistemologie und Institutionalisierung der Statistik eingefügt8 und besprochen wurde,9 macht die deutsche Übersetzung diese Kontexte nicht von Beginn an klar. Das Vorwort des Übersetzers bleibt auf technische und mathematikhistorische Einzelprobleme beschränkt.10 Es werden weder Bezüge zu den Debatten und Paradigmata der Statistikgeschichte der 1980er und 1990er Jahre noch zur Soziologie und Ökonomie hergestellt. Auch Angaben über die Motivation und den Kontext der Übersetzung fehlen. Der erste Blick auf das Buch vermittelt den Eindruck, es handele sich um eine mathematikhistorische Spezialpublikation und nicht um einen Text, dessen französische Erstausgabe in Bruno Latours und Michel Callons Reihe zu den Science and Technology Studies erschien. Die wissenschaftspolitischen Interessen, die mit diesen editorischen Entscheidungen verbunden waren, lassen sich schwer nachvollziehen. Was bleibt, ist die merkwürdige Anwesenheit eines Werkes, dessen intellektuellen und praktischen Herausforderungen bislang noch keinen Eingang in den deutschsprachigen Diskurs finden konnten. Im Folgenden werden wir in aller Kürze einige Leitlinien dieses Forscherlebens herausarbeiten, bevor wir die in diesem Heft veröffentlichten Übersetzungen vorstellen können. Wir wollen damit zur Zugänglichkeit des Werks für deutschsprachige Leser*innen beitragen und gleichzeitig seine zentrale Bedeutung für eine Wissens- und Wissenschaftsgeschichte der Enquête verdeutlichen.
Das produktive Spannungsverhältnis von statistischer Praxis und historischer Kritik: Herausforderungen eines Forscherlebens
Nach Abschluss seines Studiums an der École polytechnique und der École nationale de la statistique et de l’administration économique (ENSAE) – der 1942 gegründeten grande école für Statistiker und Wirtschaftswissenschaftler – begann Alain Desrosières 1965 seine Tätigkeit als amtlicher Statistiker am Nationalen Institut für Statistik und Wirtschaftsstudien (INSEE), eine Position, die er seine gesamte Karriere hindurch in verschiedenen Funktionen bekleidete. Ab den 1970er Jahren arbeitete er zudem an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS), einer zentralen Institution der französischen Sozialwissenschaften. Die Zeit nach dem Ende seiner Ausbildung war in Frankreich von neuen Fragestellungen über die Geschichte der Statistik und ihres Verhältnisses zum Staat und staatlicher Verwaltung geprägt. Historische Statistiken waren nicht bloß Rohmaterial oder Datengrundlage für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, sondern wurden nun selbst einer sowohl historischen als auch theoretischen Kritik unterzogen11. Alain Desrosières‘ erste Arbeiten zur Geschichte der Disziplin, zu statistischen Ämtern und ihren Klassifikationen trugen zu diesem Perspektivwechsel bei und orientierten sich dabei auch an den zeitgleichen Entwicklungen der Wissenschafts- und Statistikgeschichte in den angelsächsischen Ländern,12 aber auch in Deutschland.13
In seiner Arbeit war Desrosières zu Beginn stark von der Soziologie Pierre Bourdieus geprägt, der Mitte der 1960er Jahre sein Dozent an der ENSAE gewesen war14 – insbesondere von dessen Überlegungen zur Rolle von Kategorien als Mittel unserer Wahrnehmung und Konstruktion der Wirklichkeit.15 1976 initiierte und organisierte er zusammen mit Jacques Mairesse die vom INSEE unterstützten „Studientage zur Geschichte der Statistik in Vaucresson“ (Journées d’études de Vaucresson sur l’histoire de la statistique), bei denen statistische Praktiker*innen mit Forscher*innen zusammenkamen.16 Desrosières präsentierte und diskutierte dort auch die ersten Entwürfe seiner 1977 veröffentlichten Studie „Elemente für eine Geschichte der sozio-professionellen Nomenklaturen“ (Éléments pour une histoire des nomenclatures socio-professionnelles), in der er sich für die Historisierung zentraler Kategorien der amtlichen Statistik in Frankreich einsetzte. Diese Arbeit, teilweise zusammen mit Laurent Thévenot durchgeführt, diente nicht nur der genealogischen und soziologischen Dekonstruktion von Kategorien,17 sondern war gleichzeitig mit der Formulierung eines konkreten Vorschlags für die Neufassung der betreffenden Nomenklatur des INSEE verbunden.18
Neben seinem Bezug zur Statistik unterhielt Desrosières enge Kontakte zu den Strömungen der „pragmatischen“ Soziologie, die ihren Fokus auf die Praktiken der Akteur*innen legte,19 wie auch zur Schule der Ökonomie der Konventionen.20 Aus letzterer entlehnte er unter anderem den Begriff der „Äquivalenzkonvention“, um die kognitiven und sozialen Operationen der Umwandlung einer sozialen Tatsache in eine zahlenmäßige Repräsentation zu beschreiben. Es sind diese bahnbrechenden Arbeiten zur Geschichte und Soziologie statistischer Kategorisierung und der ihr zugrunde liegenden Vergleichsoperationen, die Generationen von Statistiker*innen, Soziolog*innen wie auch Sozial- und Wissenschaftshistoriker*innen in Frankreich und darüber hinaus geprägt haben.
In den 1980er Jahren kommt sein Bestreben, zwischen der historisch-soziologischen Betrachtung und der statistischen Praxis Verbindungen herzustellen, in mehreren kollaborativen Projekten zum Ausdruck. Gemeinsam mit Michael Pollak organisiert er am Zentrum für Europäische Soziologie (Centre de sociologie européenne) ein Seminar zur „Sozialgeschichte der Politiken und Techniken der Sozialwissenschaften“ (Histoire sociale des politiques et des techniques de sciences sociales).21 Desrosières treibt in dieser Zeit sein Forschungsprogramm an der Schnittstelle zwischen der Historisierung von Statistik und der soziologischen Analyse der statistischen Operationen weiter voran. Auch sein Interesse an der Tradition der Historischen Epistemologie, die sich im Umkreis um die sogenannte Bielefelder Schule um Lorenz Krüger formierte, entwickelt sich im Zuge dieser Problemstellung. Für Desrosières spielten hier v. a. die Arbeiten von Ian Hacking, Gerd Gigerenzer und Lorraine Daston zur Geschichte der Statistik, der Wahrscheinlichkeit und der Objektivität eine wichtige Rolle.22 Was seine historische Arbeit von diesen Forschungsbeiträgen unterschied und ihn zu einem wichtigen Gesprächspartner machte, war die grundlegend praktische und zugleich politische Dimension, in die er die Geschichte der statistischen Wissensproduktion stellte. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch seine Rezeption des aufkommenden Feldes der Science and Technologies Studies und ihres „symmetrischen“ Analyseansatzes verstehen, den er sich seit Mitte der 1980er Jahre zu eigen machte und in eigenständiger Weise vertiefte.23 Es waren diese diversen Strömungen aus Statistik, Soziologie, Ökonomie und Wissenschaftsgeschichte, die in seinem Hauptwerk Die Politik der großen Zahlen zusammenliefen, das 1993 in der bereits erwähnten Reihe „Anthropologie der Wissenschaften und Techniken“ von Bruno Latour und Michel Callon erschien.
Als historisch-soziologisch arbeitender Praktiker bemühte er sich auf diese Weise seit den 1970er Jahren, einerseits amtliche Statistik mit akademischer Soziologie, andererseits aber auch administrative Praxis mit kritischen Perspektiven und Interventionen zu verbinden. Vielleicht ist es gerade diese eigentümliche Position an der Schnittstelle zwischen Statistik und Soziologie, zwischen Praxis und Akademie, die sich so produktiv auf die Rezeption seines Werkes im französischen Wissenschaftskontext auswirkt, im deutschsprachigen Kontext jedoch eine Einordnung in klar abgegrenzte Felder erschwert.24 Der Schlüssel zum Verständnis und zur historischen Würdigung seines Werks liegt in dieser wesentlichen Spannung und den aus ihr erwachsenden Forschungsperspektiven. Dieser Blick lässt sich für eine Analyse der Praktiken des Beobachtens, des Erfassens, des Untersuchens und des Erhebens, die wir in diesem Heft unter dem Begriff „Enquête“ zusammengefasst haben, fruchtbar machen.
Realismus der Konstruktion und Kritik der Quantifizierung: Elemente einer Historisierung der Enquête
Ein erstes wesentliches Element, das sich aus Desrosières‘ Werk für die Geschichte der Enquête gewinnen lässt, ist die ausgehend von seinen Erfahrungen als Statistiker formulierte Kritik an den klassischen disziplinären Dichotomien der sozialwissenschaftlichen Forschung und der soziologischen Doxa. Exemplarisch zeigt sich dies an seiner Haltung zur Frage des Realismus und der Konstruktion statistischer Objekte sowie an seiner nicht-reduktionistischen Analyse der kognitiven und politischen Dimensionen des Messens und Klassifizierens. Der hiermit eröffnete analytische und historische Raum liefert die Grundlage für eine praxeologische und politische Geschichte der Enquête jenseits der großen disziplinären Narrative.
In seinem Werk hat sich Alain Desrosières darauf konzentriert, die Methoden zu erforschen, mit denen das Wissen über die Wirklichkeit produziert wird, sowie die Konventionen, die dafür sorgen, dass die so kreierten Gegenstände „zusammenhalten“ und von Dauer sind.25 Die Praktiken und Begriffe der Enquête existieren bei ihm nicht für sich, sondern sind in sozialen, historischen und vor allem politischen Bedingungen verankert. Einer seiner wichtigsten theoretischen Beiträge bestand darin, diese eigentümlichen Operationen in eine soziologische Terminologie zu übersetzen und ihren sozialen Charakter aufzuzeigen. Daraus folgt auch die Ablehnung einer allzu vereinfachten Unterscheidung von Konstruktion und Realismus, die er auch im Nachwort zur zweiten französischsprachigen Auflage seiner Monografie angesichts der gegen ihn gerichteten Relativismusvorwürfe26 betont.
Zwei Aspekte stehen dabei laut Desrosières im Vordergrund: Zum einen ist es von entscheidender Bedeutung, die sowohl epistemische als auch soziale Dynamik der statistischen Messung ernst zu nehmen. Wenn sich eine Form der Messung im Laufe der Zeit etabliert, „[impliziert] sie eine soziologische und institutionelle Verfestigung der gemessenen Kategorien“.27 Dieser historische Prozess der Realisierung von Kategorien ermöglicht es, die Dichotomie zwischen Realismus und Konstruktion zu umgehen und von „gleichzeitig konstruiert[en] und real[en]“ Objekten zu sprechen.28 Zum anderen besteht das Ziel einer Historisierung der Enquête in pragmatischer Hinsicht vor allem darin, die „effektiv eingesetzten Realitätsrhetoriken“ zu untersuchen,29 und das sowohl in der Wissenschaft als auch im öffentlichen Diskurs. Die zentrale Frage lautet dann folgendermaßen: Was führte dazu, dass wir die Existenz bestimmter Kategorien und Objekte in unserem alltäglichen und wissenschaftlichen Denken als selbstverständlich annehmen, während wir anderen Kategorien mithilfe unterschiedlichster Argumente die Gewissheit absprechen? Kurz gesagt: Was ist das Kriterium für die Wirklichkeit der Kategorien und Objekte der Sozialwissenschaften?
Desrosières‘ Antworten auf diese Fragen speisen sich aus der wissenssoziologischen Rekonstruktion spezifischer „Situationszwänge“, d. h. der Analyse konkreter Wissensbestände in einzelnen Situationen.30 Von einem relationistischen Standpunkt31 aus verwandeln sich philosophische oder erkenntnistheoretische Fragen nach der Wirklichkeit und ihrer Darstellung in Fragen nach ihrer Herstellung und den damit verbundenen Praktiken, Konventionen und Modalitäten. Ein weiterer und hieran anknüpfender Aspekt ist die symmetrische Behandlung der politischen, kognitiven und technologischen Herausforderungen der Enquête und der mit ihr verbundenen Forschungs- und Messtechniken. Der verbreiteten reduktionistischen Kritik an Statistik und Quantifizierung als Instrumenten des Staates zur Kontrolle und Macht über Individuen stellt Desrosières eine historische Kritik der statistischen Urteilskraft gegenüber – die er mit seinem Begriff des „statistischen Arguments“ und dessen stets umkämpften epistemischen und politischen Status zu greifen versucht.32
Neben den Blicken auf Akteurs- und Handlungsebene erweist sich vor allem Desrosières‘ Kritik der Quantifizierung als grundlegend für die Historisierung der Enquête als Wissenspraxis. Die Vorstellung von Quantifizierung wird von ihm in zwei Hauptbestandteile zerlegt, die er mit den Begriffen der „Konvention“ und der „Messung“ zu fassen versucht. „Quantifizieren“, verstanden als Tätigkeit des „Zahlenmachens“ (faire du nombre), setzt ihrerseits eine „Reihe von Äquivalenzkonventionen“ voraus, d. h. „Vergleiche, Verhandlungen, Kompromisse, Übersetzungen, Einschreibungen, Codierungen, kodifizierte und replizierbare Verfahren und Berechnungen, die zu einer Zahlengebung hinführen“.33 Das Messen im allgemeinen Sinne des Wortes wird nur am Ende dieses Prozesses möglich. Die Zerlegung in die beiden konstitutiven Momente „Konvention und Messung“34 macht Quantifizierung als ein historisches Objekt sui generis sichtbar und erschließt sie als Gegenstand historischer und soziologischer Untersuchungen. Desrosières‘ Geschichte und Soziologie der Statistik unternimmt den Versuch, die kognitiven und theoretischen wie die politisch-ökonomischen Kontexte gleichermaßen ernst zu nehmen.35 Dabei verweist gerade die Betonung des hergestellten (und damit realen) Charakters des „statistischen Arguments“ auf seine partizipativen Potenziale und die Möglichkeiten kreativer Aneignung der statistischen Urteilskraft sowohl in reformistischen als auch emanzipatorischen Perspektiven.
Einführung in die Übersetzungen
Zum Abschluss möchten wir die voranstehenden Überlegungen zum Werk Alain Desrosières‘ kurz mit den hier erstmals ins Deutsche übersetzten Beiträgen und dem Rahmenthema des Heftes verknüpfen. Inwiefern können seine Schriften uns dabei helfen, über die Geschichte von Enquêten und Erhebungspraktiken nachzudenken? Die für die vorliegende Ausgabe ausgewählten Texte, die aus zwei im Abstand von 25 Jahren gehaltenen Vorträgen hervorgegangen sind, thematisieren zentrale Fragen für eine transdisziplinäre Reflexion über Enquêten: Der erste richtet sich auf die Bestimmung des Gegenstandes Enquête selbst und fragt nach den vielfältigen Formen, die die Enquête im Rahmen unterschiedlicher historischer Konfigurationen angenommen hat. Der zweite Text widmet sich vor dem Hintergrund der Occupy-Proteste Anfang der 2010er Jahre der Frage nach dem politischen und transformativen Charakter von Enquêten und ihren Auswirkungen auf die Gesellschaft.
In „Der Gegensatz zweier Formen der Enquête: Monografie und Statistik“ (1988)36 schlägt Alain Desrosières eine Neuinterpretation der Historiografie der Enquête vor, die die traditionelle Gegenüberstellung von quantitativer und qualitativer Erhebung hinterfragt. Anstatt diesen Gegensatz auf rein methodologische Präferenzen zu reduzieren, zeigt er die epistemologischen Voraussetzungen auf, die diesen beiden „Wissensformen“ zugrunde liegen. Nicht nur die „Äquivalenz“ zwischen der beobachteten Wirklichkeit und ihrer Darstellung wird in beiden Wissensformen anders konzipiert, sondern auch die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Teil und Ganzem. Er öffnet damit den Rahmen für eine vergleichende Geschichte von Erhebungspraktiken und -kulturen, die die vorgefasste Vorstellung starrer Dichotomien zwischen quantitativen und qualitativen Methoden überwindet, um gerade die Vielfalt und Heterogenität der Beobachtungsmodi und die ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen von Vergleichbarkeit und Generalisierung zu betrachten.
In dem Text „Die Statistik: Instrument der Befreiung oder Instrument der Macht?“ (2012)37 analysiert Alain Desrosières anhand einiger historischer und zeitgenössischer Beispiele die Beziehung zwischen statistischen Erhebungen und politischen Kämpfen. Er bezieht sich dabei auf die kritische Tradition, die seit den 1970er Jahren die Statistik zunehmend als Macht- und Herrschaftsinstrument identifizierte, das vom Staat und den „Herrschenden“ zur Kontrolle, Überwachung und Unterdrückung der Bevölkerung genutzt werde. Wenngleich die Entstehung der Statistik als staatliches Machtinstrument schwer zu bestreiten ist, so kommt es Desrosières hier auf eine Weiterentwicklung der statistischen Vorstellungskraft an, die auch ihre (historische) Rolle als Instrument des Aktivismus in den Blick zu nehmen erlaubt. Im Zentrum des Textes steht die Interaktion zwischen statistischer Wissensproduktion einerseits, und dem Vermögen und der Kreativität seiner Aneignung und Transformation von unten. Die Beziehung zwischen Politik und Statistik hat viele Facetten. Desrosières unterscheidet sie in seinem Text sorgfältig, indem er die verschiedenen Arten der Mobilisierung der statistischen Urteilskraft bzw. des „statistischen Arguments“ nachzeichnet. Um 1900 zum Beispiel griffen Akteure auf die Quantifizierung zurück, um Argumente für die Emanzipation der Arbeiterklasse (oder – deutlich davon zu unterscheiden – für den „Schutz“ ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen) vorzubringen.38 Obwohl diese interaktive Dimension des statistischen Arguments schon früher in den Arbeiten Desrosières‘ angelegt war, wird sie erst in seinen letzten Texten als ein systematischer Ansatz ausgebaut. Gerade diese Hervorhebung der transformativen und interaktiven Dimension der statistischen Wissensproduktion hinsichtlich der sozialen Bewegungen, des statistischen Aktivismus und des Kampfes um Gegenwissen39 bildet ein dynamisches Forschungsfeld, in das sich eine Wissens- und Wissenschaftsgeschichte der Enquête im Anschluss an Desrosières in Zukunft einschreiben könnte.40
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Das Denken von Alain Desrosières präsentiert sich auch in diesen beiden Texten als nicht dichotomisch: In beiden unternimmt er den Versuch, den naheliegenden Gegensatz zwischen Monografie und Statistik oder zwischen Befreiungsinstrument und Machtinstrument zu überwinden. Er schlägt einen dritten Weg vor, der, anstatt normative Konstruktionen als Ausgangspunkte einer Argumentation zu nehmen, diese zu hinterfragen erlaubt: Indem sie Wissen über die Welt produzieren und in die Welt setzen, wirken soziale Akteure auf die Welt ein und transformieren sie. Die besondere soziale Bedeutung der Enquête, so lässt sich abschließend mit Verweis auf Desrosières sagen, liegt also gerade in der Weise begründet, mit der sie normative Vorstellungen und kognitive Instrumente miteinander in Beziehung setzt und so neue Perspektiven auf eine geteilte Wirklichkeit eröffnet.