Auf der berühmten Konferenz von Évian, die im Juli 1938 in dem südostfranzösischen Ferienort Évian-les-Bains am Ufer des Genfer Sees stattfand, kamen auf Geheiß von Präsident Franklin D. Roosevelt Regierungsvertreter*innen aus über 30 Ländern zusammen, um eine „Lösung“ für die zunehmende Vertreibung in Europa und insbesondere für die akute Gefahr der Vertreibung der Juden in Deutschland zu finden.1 Obgleich zwischen den anwesenden Bürokrat*innen und Politiker*innen in sowohl öffentlichen Sitzungen als auch privaten Gesprächen düstere Statistiken über gegenwärtige und künftige Vertreibungen zirkulierten, führten diese jedoch zu keinerlei Maßnahmen, die über milde Solidaritätsbekundungen hinausgingen. Golda Meir, die spätere israelische Premierministerin, die als Vertreterin der jüdischen Gemeinde im Mandatsgebiet Palästina an dem Treffen teilnahm, erinnerte sich:
Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte geschrien: Wi[ss]t ihr denn nicht, da[ss] diese ‚Nummern und Zahlen’ menschliche Wesen sind, die vielleicht den Rest ihres Lebens in Konzentrationslagern verbringen oder in der Welt herumziehen müssen wie Leprakranke, wenn ihr sie nicht aufnehmt?2
Als die Konferenz nach zwei Wochen zu Ende ging, war ihr einziges Vermächtnis die Einrichtung des Intergovernmental Committee on Refugees (IGCR) als ständiger Ausschuss mit dem Ziel, regelmäßig in London zusammenzukommen und unter der Leitung des amerikanischen Anwalts George Rublee eine „geordnete Auswanderung“ aus dem nationalsozialistischen Deutschland zu organisieren.3
In Évian standen den Teilnehmer*innen diverse quantitative Materialien zur Verfügung, um die zunehmend dramatische Situation zu beurteilen: Jede Regierungsvertretung und jeder Flüchtlingsrechtsbeistand, der vor den Ausschüssen der Konferenz sprechen durfte, brachte in der Regel seine eigenen detaillierten und mit Erzählungen unterlegten Zahlen mit. Als maßgebliches Dokument kristallisierte sich jedoch schnell die vom britischen Experten John Hope Simpson initiierte Flüchtlingserhebung heraus, die supranational angelegt war und somit umfassend und vermeintlich objektiv erschien.4 Die wissenschaftliche Untersuchung definierte die Flüchtlingseigenschaft weitgehend aus einer quantitativen Perspektive und zählte nicht nur die bestehenden Flüchtlinge, sondern versuchte auch, ihre „künftige“ Zahl grenzüberschreitend zu prognostizieren. Als der Abschlussbericht der Studie – mit dem treffenden Titel The Refugee Problem – 1939 offiziell veröffentlicht wurde, avancierte er schnell zu einem Standardwerk für politische Entscheidungsträger auf beiden Seiten des Atlantiks.5
Dieser Artikel widmet sich der Flüchtlingsstudie als oft übersehenem Beispiel der angewandten – und vor allem politisch nutzbaren – Sozialforschung Mitte des 20. Jahrhunderts. Dabei geht es mir erstens darum, aufzuzeigen, wie die Statistik maßgeblich an der Bildung einer neuen sozialen und administrativen Kategorie beteiligt war. Die wissenschaftliche Studie, die Hope Simpson und ein Team von sechzehn Forscher*innen zwischen September 1937 und Oktober 1938 durchführten, mündete in einem 640-seitigen Bericht. Dieser enthielt eine Fülle von vermeintlichen statistischen Fakten zum „Flüchtlingsproblem“ aus veröffentlichten Quellen, Berichten des Völkerbunds und verschiedener Hilfsorganisationen sowie Daten, die die Forscher*innen selbst in einzelnen Ländern erhoben hatten. Während sich zahlreiche Historiker*innen heute in erster Linie auf diesen Bericht als beschreibende Datenquelle berufen, die Wissenschaftler*innen einen objektiven Einblick in vergangene Fluchtbewegungen bietet, zeige ich auf, dass der Zweck der Erhebung darin bestand, Flüchtlinge sowohl zu zählen als auch zu „definieren“. Die Berechnung von Flüchtlingen über nationale Grenzen hinweg war ein Paradebeispiel dessen, was Ian Hacking als „making up people“ bezeichnet hat.6 Sie verdeutlicht ein sozialwissenschaftliches Erbe, das sich im vermeintlich rechtlichen Konzept des modernen Flüchtlings verkörpert hat und dazu beitrug, das Augenmerk des institutionellen sowie öffentlichen Diskurses vom Akt der Vertreibung auf den neuen Sozialtypus des Flüchtlings zu verschieben.7
Zweitens argumentiere ich, dass die Kategorie „Flüchtling“, sobald sie durch den Hope Simpson survey wissenschaftlich definiert war, praktisch nutzbar wurde. Als angloamerikanische Enquête saß die Flüchtlingsstudie direkt an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik. Finanziert von der amerikanischen Rockefeller Foundation und durchgeführt unter der Schirmherrschaft des britischen Thinktanks Chatham House war sie von Beginn an darauf ausgerichtet, die europäische Flüchtlingspolitik durch gezielte Wissensproduktion zu beeinflussen, was durch die Vorabzirkulation des Abschlussberichts in Évian unterstrichen wurde. Im Zuge dessen wurde die interventionistische Tendenz der historisch national ausgerichteten Sozialerhebung auf den Bereich der internationalen Politik ausgeweitet.8
Wie ich jedoch drittens aufzeige, wurde die Enquête im Umkehrschluss auch von dem politischen Umfeld beeinflusst, aus dem sie entstand. Dies ergibt sich klar aus dem intellektuellen Milieu des Direktors der Studie, dem ehemaligen Kolonialverwalter John Hope Simpson. Ursprünglich für den Indian Civil Service ausgebildet, hatte dieser einen Großteil seines Berufslebens in Indien verbracht, bevor er während des Ersten Weltkriegs in die Metropole zurückkehrte und kurzfristig als Mitglied des Parlaments den Ausschussvorsitz für die indischen Kolonien innehatte. Seine darauffolgende Hinwendung zur Erforschung und Verwaltung von europäischen Flüchtlingen stand in überraschender Kontinuität zu diesem Werk, wie sich im Verlauf dieses Artikels zeigt: Er verstand Flüchtlinge zum Teil als ähnlich widerspenstige Subjekte der Volkszählung wie Teile der Bevölkerung des britischen Kolonialreichs und bezog sich außerdem auf historische Präzedenzfälle der intraimperialen Migration, um für eine selektive Integrierung der europäischen Flüchtlinge in das British Empire zu argumentieren.
Unsichere Datengrundlagen für eine provisorische Demografie der Flucht
Die Enquête Hope Simpsons sowie auch zahlreiche andere Versuche in den Zwischenkriegsjahren, Flüchtlinge konkret zu quantifizieren und definieren, folgten dem generellen Trend einer global ausgerichteten Statistik, insbesondere im Umfeld des neu gegründeten Völkerbunds. Hier sammelten Beamt*innen im Dienst der internationalen Gemeinschaft Informationen über eine Vielzahl von internationalen „Problemen“, darunter auch Infektionskrankheiten und Kriminalität.9 Diese Informationsbeschaffung orientierte sich an sozialwissenschaftlichen Grundsätzen, die Statistiken als eine faktische Sprache erscheinen ließen, die problemlos über Grenzen hinweg zirkulieren konnte – auch wenn es für Menschen und Waren immer schwieriger wurde, dies zu tun. Obgleich die internationalen Beamt*innen des frühen 20. Jahrhunderts ihre statistische Datenerhebung und -analyse als objektive, unpolitische Methodik darstellten, waren sie jedoch auch für eine normative Dimension des Datenerhebungsprozesses verantwortlich. So gingen sie beispielsweise davon aus, dass Zahlen in der Lage seien, eine Weltgemeinschaft nach ihrem eigenen Muster zu schaffen. Speziell die vergleichende Statistik wurde so zu einem entscheidenden Faktor für die Schaffung gemeinsamer internationaler Räume, die konsequent überwacht und gesteuert werden konnten, wie etwa eine stabile Weltwirtschaft.10 In ähnlicher Weise trugen transnationale Berechnungen von Volkszahlen zur aufkommenden Idee einer Weltbevölkerung bei, die ein zusammenhängendes Ganzes war – im Sinne eines lebenden Organismus – und auch eine wissenschaftlich berechenbare Einheit, die gegebenenfalls durch gezielte Umverteilung „behandelt“ werden konnte.11
Innerhalb dieses Organismus nahmen sich Flüchtlinge jedoch wie ein Fremdkörper aus, eine seltsame Pathologie, der durch Statistiken kaum beizukommen war. Von Vertretern des Völkerbunds, die nach dem Ersten Weltkrieg die Flucht als Massenerscheinung zu bewältigen versuchten, wurden sie zunächst als besondere rechtliche Kategorie gefasst. Das grundlegende Problem bestand darin, dass mit den Flüchtlingen eine neue Variable in der Berechnung der Bevölkerung zum Vorschein kam, deren Beziehungen zu anderen Untereinheiten noch unklar waren. Da sie formell keinem Staat angehörten – sie waren entweder de jure staatenlos oder de facto aus ihrem Heimatland vertrieben, wie der Bericht Hope Simpsons feststellte – konnten sie nicht vollständig in die nationalen Statistiken aufgenommen werden.12 Dennoch mussten sie im Verhältnis zu den Nationalstaaten gemessen werden, um ihre derzeitige Verteilung und die verschärfenden Auswirkungen der Flucht auf die hohe Bevölkerungsdichte in vermeintlichen „Hotspots“ zu ermitteln.13 Die sozialwissenschaftliche Lösung dieses Dilemmas war die Berechnung der Flüchtlinge als „selbstständiger“ Bevölkerung.
Wie Hope Simpsons Erhebung von 1939 illustriert, erwies sich eine solche Erfassung vor dem Hintergrund der traditionellen Demografie jedoch als kompliziert. Für diejenigen, die sie zu klassifizieren versuchten, stellten Flüchtlinge im wahrsten Sinne des Wortes „bewegliche Ziele“ dar.14 Zum einen erschienen die statistischen Ereignisse, die traditionell für die Messung einer bestimmten Bevölkerung verwendet wurden – Geburt und Tod – als ungeeignet: Der Flüchtlingsstatus sollte schließlich eine vorübergehende Kategorie bilden und nicht ein Leben lang halten, geschweige denn über Generationen hinweg vererbt werden. Demnach wurde in der Erhebung der Flüchtlingsbevölkerung temporäre Anwesenheit als wichtigstes demografisches Ereignis befunden. Die Veränderung einer derartig definierten Bevölkerung im Verlauf der Zeit erfassten die Sozialwissenschaftler*innen der Hope-Simpson-Enquête konsequenterweise über Bewegung und nicht über Zusammensetzung der Bevölkerung: Ausweisungsraten ersetzten die gebräuchlichen Reproduktionsraten in der demografischen Bestandsaufnahme. Idealerweise wurden solche Ausweisungsraten durch Einbürgerungsstatistiken andernorts komplementiert, was den vorübergehenden Charakter des Flüchtlingsstatus unterstrich: Sobald ein Flüchtling durch Einbürgerung oder Verlassen des Gebietes des zählenden Staates aus der Statistik verschwand, entfiel er rechtlich gesehen auch der Kategorie als solches. Wie Hope Simpson jedoch in der vorläufigen Fassung seines Abschlussberichts schrieb, war die sogenannte Absorption der Flüchtlinge in den jeweiligen Gastländern „ein Zustand, der sich einer quantitativen Analyse entzieht“, da es sozio-politisch schwierig war, zu entscheiden, wann genau ein Flüchtling aufhörte, ein solcher zu sein.15
Neben diesen konzeptionellen Problemen sah sich das Team um Hope Simpson auch mit praktischen Hürden bei der Bewertung der quantitativen Dimension des „Flüchtlingsproblems“ konfrontiert. Im Abschlussbericht musste Hope Simpson wiederholt einräumen, dass es sich bei den in der Erhebung verwendeten Zahlen häufig um reine Schätzungen handelte, da das übliche Überwachungsinstrument des Reisepasses durch den vorübergehenden Rechtsstatus der Flüchtlinge weitgehend ausgehebelt wurde. Der berühmte Nansen-Pass, der vom Völkerbund ausgestellt wurde, hatte diesem Umstand bis zu einem gewissen Grad Abhilfe geschaffen, wurde aber nur widerwillig auf andere Gruppen als russische und armenische Flüchtlinge ausgedehnt und blieb daher unzuverlässig, um die „gesamte“ Flüchtlingsbevölkerung zu erfassen.
Bei näherer Betrachtung stellte sich also heraus, dass die quantitative Grundlage der Hope-Simpson-Erhebung aus einer Vielzahl von Quellen stammte, einschließlich nationaler Regierungen, die nicht immer dieselben Einheiten oder Standards verwendeten. Dies wurde im Abschlussbericht der Studie offensichtlich: Bei einer Schätzung der russischen Flüchtlinge in Finnland aus dem Jahr 1921 wurden „wahrscheinlich keine Juden und Ukrainer berücksichtigt“.16 Die Zahl der ausländischen Bevölkerung in Frankreich im Jahr 1936 wurde „als niedriger als die tatsächliche Gesamtzahl angesehen, da man in Zeiten der Depression nicht bereit war, die ausländische Herkunft offenzulegen“.17 Um das Flüchtlingspotenzial der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und Osteuropa zu berechnen, fügten die Forscher*innen der Studie eine scheinbar willkürliche Zahl hinzu, die „wahrscheinlich unzureichend“ war, um die bisher nicht erfasste Auswanderung auszugleichen.18 Am Ende stellte der Bericht einfach fest, dass es „keine genauen Statistiken [gibt], außer über die unterstützte Auswanderung“ aus Europa.19
Widerspenstige Subjekte der statistischen Analyse
Einerseits verdeutlichten solche Mängel die Tatsache, dass die Statistiken des frühen 20. Jahrhunderts zwar allgegenwärtig, aber methodisch nicht über nationale Grenzen hinweg standardisiert waren.20 Andererseits ähnelten sie verblüffend den wahrgenommenen Mängeln im Bereich der Kolonialstatistik. Joël Glasman hat argumentiert, dass die Kolonialverwaltungen erst nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten, die Lokalbevölkerung numerisch zu erfassen und in internationale Statistiken zu integrieren.21 Doch diese Periodisierung stellt allzu leicht den mangelnden Erfolg der Verwaltung mit fehlendem Willen gleich: Volkszählungen waren bereits ein wichtiges Instrument der kolonialen Kontrolle und der Sozialforschung in den 1920er und 1930er Jahren, das in den europäischen Kolonialgebieten weit verbreitet war.22 Vor allem im British Empire versuchten Staatsbeamt*innen unablässig, die Lokalbevölkerung wissenschaftlich zu vermessen, oft mit dem Maßstab der europäischen Bevölkerung in der Metropole.23
Nach den Schriften der Zeitgenoss*innen zu urteilen, scheiterte die Statistik jedoch aus methodischen Gründen an dem Ziel, die Bevölkerung des Kolonialreichs demografisch transparent zu machen.24 Im selben Jahr, in dem Hope Simpson und sein Team sich daran machten, europäische Flüchtlinge zu quantifizieren, beklagte der einflussreiche Demograf Robert René Kuczynski, dass „die Bevölkerungsstatistiken der meisten Kolonien heute in einem ähnlichen Zustand sind […] wie die Bevölkerungsstatistiken der meisten europäischen Länder vor 150 Jahren“.25 Laut Kuczynski, der als Berater des britischen Colonial Office tätig war, verhielten sich die Volkszähler*innen in den Kolonien uneinheitlich in ihren Berechnungsmethoden und ihrer Wahl der zu zählenden Kategorien. Dies machte es unmöglich, Veränderungen innerhalb der Bevölkerung von einer Volkszählung zur nächsten zu verfolgen, geschweige denn Vergleiche zwischen verschiedenen Kolonien anzustellen.26 Darüber hinaus berichtete Kuczynski, dass die Bevölkerungsschätzungen häufig in fehlerhafte Kategorien eingeteilt wurden, die nicht mit den lokalen sozialen Hierarchien übereinstimmten, die die Kolonialbevölkerung zur Selbstidentifizierung nutzte – was vor allem für die Wahrnehmung von Rassekategorien galt. Da die Registrierung von Geburten und Todesfällen oft nicht obligatorisch war und nicht ordnungsgemäß durchgesetzt wurde, boten die kolonialen Volkszählungen bestenfalls eine „begründete Vermutung“ über die Größe und Zusammensetzung der Bevölkerung und lieferten letztendlich nur Erkenntnisse, die Kuczynski als „völlig unzureichend“ bezeichnete.27
Angesichts seines eigenen Interesses am British Empire war sich Hope Simpson dieser Probleme der kolonialen Demografie sicherlich bewusst. Während er die Flüchtlingserhebung vorantrieb, engagierte er sich im Rahmen von Chatham House außerdem in einer Arbeitsgruppe, die 1937 den ausführlichen Bericht „The Colonial Problem“ verfasste, in dem ein ganzes Unterkapitel dem kolonialen „Bevölkerungsproblem“ gewidmet war.28 Demnach waren die Parallelen zwischen der Kolonial- und der Flüchtlingszählung offensichtlich. Wie Kuczynski versuchte auch Hope Simpson, auf der Grundlage statistischer Analysen Prognosen zu erstellen und verwendete sowohl Querschnitts- als auch Zeitreihendaten: Er verglich Flüchtlingsgruppen in verschiedenen Ländern zu einem bestimmten Zeitpunkt und prognostizierte gleichzeitig ihre Entwicklung im Zeitverlauf.29 Und wie die Einwohner*innen des Kolonialgebiets wurden auch Flüchtlinge oft als nicht-nationale Bevölkerungsgruppen betrachtet und – insbesondere im Fall der Flüchtlinge aus dem Osten – von Hope Simpsons Zeitgenossen als nicht-europäisch wahrgenommen.30 Koloniale Bevölkerungen wurden, wie Glasman hervorgehoben hat, typischerweise „undifferenziert“, d. h. als Masse erfasst – aber dies galt ebenso für die europäischen Flüchtlinge der Zwischenkriegszeit.31
Methodisch lehnte sich die vermeintlich internationale Flüchtlingsstatistik der 1930er also an eine britisch-imperiale Vorlage an.32 Es überrascht daher nicht, dass die widerspenstigen Subjekte in den Untersuchungen von Kuczynski und Hope Simpson in der Praxis auch einige der gleichen Komplikationen verursachten. Wie Kuczynski in seiner Kritik an den Kolonialstatistiken feststellte, war die quantitative Erfassung und Kontrolle der Kolonialbevölkerung von deren Kooperation abhängig und ließ daher ungewollt Raum für Widerstand. In ähnlicher Weise stellte die Handlungsfähigkeit der Flüchtlinge ein Problem für ihre statistische Verwaltung dar, wie Hope Simpson im Abschlussbericht insbesondere im Hinblick auf die russischen Flüchtlinge bemerkte. Da sie etwa ein Jahrzehnt zuvor aus ihrem Herkunftsland vertrieben worden waren, hätten sie in den 1930er Jahren in den Statistiken theoretisch durch politische Assimilation „verschwinden“ müssen, meinte er. Doch einige widersetzten sich der Einbürgerung, der „endgültigen Absorption“, aufgrund ihrer ungebrochenen nationalen Identifikation mit ihrem Herkunftsland. Über diese oft staatenlosen Flüchtlinge aus Russland schrieb Hope Simpson in seinem Bericht: „Aus objektiven Gründen wurde ihre Position stabilisiert, als die Rückführung unmöglich wurde; aus subjektiven Gründen stabilisierte ihre Nostalgie sie als Flüchtlinge“.33 In Frankreich hielten die russischen Flüchtlinge auch nach zwanzig Jahren im Exil an ihrem Glauben an eine mögliche Rückkehr in ihr Heimatland fest. „Für den außenstehenden Beobachter kann diese Haltung nur bemitleidenswert erscheinen“, bemerkte Hope Simpson.34 Anhaltende Nostalgie und entsprechende politische Loyalitäten – ein Phänomen, das über die russischen Flüchtlinge hinausging – waren bis zu einem gewissen Grad verständlich, aber in den Augen von Hope Simpson letztlich kontraproduktiv, da sie bedeuteten, dass die Flüchtlinge „in vielerlei Hinsicht durch ihre politische Aktivität selbst zu ihrer Unsicherheit beitragen“.35 Indem sie sich dem in der Kategorie angelegten Wandel aktiv widersetzten, machten die Flüchtlinge selbst eine vorübergehende Misere zu einem Dauerzustand. Ein rechtlich provisorischer Status mutierte so zu einer anhaltenden Identitätskategorie und verhinderte laut Hope Simpson die „praktische Liquidierung des existierenden Flüchtlingsproblems“.36
Die Kolonialgebiete als potentielle Aufnahmeländer
Wie für viele der politischen Kommentator*innen seiner Zeit ergab sich für Hope Simpson und seine wissenschaftlichen Mitstreiter*innen nur eine konkrete Maßnahme, um mit der Aussicht auf eine längerfristige Flüchtlingsbevölkerung in Europe fertig werden zu können: Die Flüchtlinge sollten fern des Kontinents, und möglichst massenhaft, umgesiedelt werden. Dies brachte jedoch fast zwangsläufig die europäischen Kolonialgebiete, insbesondere die des British Empire, in die Diskussion um das „Flüchtlingsproblem“ – was bei Hope Simpson nicht auf uneingeschränkte Zustimmung stieß.
Anfang 1938, als die Flüchtlingserhebung noch in vollem Gange war, schrieb Norman Bentwich, britischer Gelehrter für internationale Beziehungen und ehemaliger Generalstaatsanwalt des Mandatsgebiets Palästina, dass der lang erwartete Bericht Hope Simpsons hoffentlich nicht nur eine korrekte Aufzählung des Flüchtlingskontingents enthalten, sondern auch „aufzeigen [würde], wie diese neue und wachsende Kategorie von Menschen in die normale Gesellschaft aufgenommen werden könnte. Denn der Flüchtling sollte nicht, wie die Armen, immer bei uns sein“.37 Als Zionist erwartete Bentwich, dass die internationale Flüchtlingserhebung angesichts der rasch zunehmenden Vertreibung der Juden aus dem nationalsozialistischen Deutschland ein Argument für die Förderung der jüdischen Ansiedlung in Palästina liefern würde. Diese Hoffnungen wurden enttäuscht. Bei der öffentlichen Vorstellung der Studie in den Räumlichkeiten von Chatham House im Juni 1938 zeigte sich Hope Simpson kritisch gegenüber einer weiteren Einwanderung in das politisch instabile Palästina und in der Tat gegenüber der zionistischen Ideologie im Allgemeinen. Bentwich, welcher im Beirat der Studie saß, widersprach dieser unerwarteten argumentativen Wendung in der anschließenden Diskussion lautstark.38
Ein weiterer Dämpfer für Bentwichs Bestrebungen erfolgte im folgenden Monat auf der Konferenz von Évian, wo er vor dem Unterausschuss sprach, der mit der Anhörung von Nichtregierungsorganisationen beauftragt war, aber letztlich hilflos zusehen musste, wie Palästina als weitgehend tabu für eine weitere Ansiedlung erklärt wurde.39 Dementsprechend war es keine große Überraschung, als Hope Simpson in seinem Abschlussbericht der Enquête feststellte, dass Palästina „bis auf weiteres kein praktikables Zufluchtsland für jüdische Flüchtlinge mehr ist und dass, solange die politische Unruhe nicht unterdrückt ist, offensichtlich nur eine sehr geringe Zahl von Einwanderern sinnvollerweise in das Land aufgenommen werden kann“.40
In den politischen und öffentlichen Debatten über das „Flüchtlingsproblem“ Mitte der 1930er Jahre war das Mandatsgebiet Palästina ein wichtiger Referenzpunkt, insbesondere in Bezug auf langfristige Siedlungspläne für jüdische Flüchtlinge. Besonders im amerikanischen Raum wurde Palästina oft als leuchtendes Beispiel für eine potenzielle „Lösung“ des europäischen „Flüchtlingsproblems“ herangezogen: Angesichts der attraktiven Dokumentation von bewässerten Landschaften, neu errichteten Bauernhäusern und hochtechnologischen Infrastrukturen stellte die ländliche Ansiedlung von Juden in Palästina ein Muster für eine erfolgreiche „Massentransplantation“ europäischer Migranten dar, die – mit den richtigen Mitteln – auch andernorts nachgeahmt werden könnte.41 Obwohl es im Mandatsgebiet in den 1920er und 1930er Jahren immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den arabischen Einwohner*innen und den jüdischen Einwander*innen kam, glaubten Teile des britischen Establishments daran, dass dieses vornehmlich politische Problem schließlich überwunden werden könnte.42
Dieser Optimismus wurde jedoch von Hope Simpson nicht geteilt – und das, aus seiner Sicht, auf fundierter wissenschaftlicher Basis. Ein Jahrzehnt zuvor, nach heftigen Protesten der arabischen Bevölkerung gegen die jüdische Gebietserweiterung, war er als Bevölkerungsexperte von Whitehall nach Palästina geschickt worden, um einen objektiven Bericht über die Situation vor Ort zu verfassen. Sein Gutachten sollte den Bericht der Shaw-Kommission ergänzen, der andeutete, dass die arabische Bevölkerung angesichts der begrenzten Landressourcen in Palästina nicht so geschützt war, wie es das britische Mandat vorsah, wenn eine kontinuierliche Gebietserweiterung des Jischuv zugelassen oder sogar gefördert werden würde.43
Die Erkenntnisse dieser Ad-hoc-Studie zu Palästina flossen nicht nur in Hope Simpsons spätere Gedanken zur Flüchtlingsumsiedlung ein; sie hingen ausdrücklich mit seinen Erfahrungen als Kolonialbeamter zusammen. Im britischen Ausschuss für indische Kolonien Mitte der 1920er Jahre hatte er sich speziell mit der Arbeitsmigration innerhalb des British Empire befasst und der Frage, inwieweit indische Einwander*innen den wirtschaftlichen Fortschritt der Afrikaner*innen in Kenia fördern oder behindern würden. Nach langen Beratungen über die verfügbaren Migrationsstatistiken hatte Hope Simpsons Ausschuss schließlich empfohlen, keine Einwanderungsbeschränkungen für Inder*innen einzuführen – sehr zum Missfallen der lokalen weißen Siedlerminderheit.44 Die Begründung lautete: „Die Politik der britischen Regierung besteht darin, den Weißen, Braunen und Schwarzen gleichermaßen Recht und Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.“45
Obwohl er anerkannte, dass es sich bei den jüdischen Neuankömmlingen in Palästina größtenteils um Flüchtlinge aus Mittel- und Osteuropa handelte, fasste Hope Simpson diese in seiner Palästina-Studie 1930 ähnlich unter dem Begriff der „importierten Arbeitskräfte“ zusammen.46 Der resultierende Bericht konzentrierte sich demnach in wirtschaftlicher Hinsicht auf Nachfrage und Angebot in einem, nach Hope Simpsons Ermessen, kolonialen Gebiet. Hierbei bestätigte er die Wahrnehmung eines qualitativen Unterschieds zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölkerung, vertrat jedoch die Ansicht, dass die britischen Behörden im Rahmen des Mandats über beiden stehen und „das Land als eine Einheit betrachten“ müssten, um sicherzustellen, dass es „weder in der Politik noch in der Statistik eine Diskriminierung zwischen den Rassen gibt“.47 Sowohl im Falle Kenias als auch in dem Palästinas berief sich Hope Simpson auf eine scheinbar horizontale Vielfalt, die in der Praxis eine vertikale Schichtung der Kolonialbevölkerung voraussetzte, die durch ständige und sorgfältige Berechnungen aufrechterhalten und gegebenenfalls ausgeglichen werden musste. Solch eine Einordnung Palästinas als koloniales Gebiet, das nur von der britischen Verwaltung statistisch korrekt erfasst werden konnte, wurde durch die Debatten über die zweite – und gleichzeitig letzte – vollständige Volkszählung im Mandatsgebiet 1931 noch unterstrichen.48
Letztendlich stimmten Hope Simpsons Ergebnisse aus Palästina weitgehend mit denen der Shaw-Kommission überein, indem sie die wirtschaftlich prekäre Lage der arabischen Bevölkerung aufgrund von Landverlusten hervorhoben, obwohl er diese Tatsache sowohl der Expansion des Jischuv als auch dem Versäumnis der Araber*innen zuschrieb, die Landwirtschaft und andere Landnutzungstechniken zu modernisieren. Als Lösung schlug er sowohl eine Beschränkung und verstärkte Kontrolle der jüdischen Einwanderung als auch ein breit angelegtes Entwicklungsprogramm vor, das von der Mandatsverwaltung durchgeführt werden sollte, um durch eine intensivere Nutzung Land freizugeben und so beiden Parteien zu helfen.49 Obgleich dieser Plan als zu kostspielig erachtet wurde, fanden sich wesentliche Teile seiner allgemeinen Argumentation im Weißbuch von Passfield wieder, das im selben Jahr veröffentlicht wurde. Im Laufe der 1930er Jahre befürworteten Teile des britischen Establishments zunehmend eine ethnonationale Teilung Palästinas, die nach dem Modell des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustauschs angewandt werden könnte, sobald genügend Land für die Umsiedlung zur Verfügung stünde.50 Hope Simpson selbst hielt jedoch weiterhin an seiner Präferenz für eine stark reduzierte Aufnahme von Flüchtlingen im Sinne eines kolonial verwalteten Gleichgewichts fest – selbst als sich mit der fünften Alija in den 1930er Jahren die jüdische Flucht aus Europa erheblich verstärkte.51
Jenseits der Palästinafrage war die Umsiedlung von europäischen Flüchtlingen in „andere“ Teile des British Empire – speziell dort, wo die weiße Siedlerbevölkerung im Verhältnis zur einheimischen zu schrumpfen schien – eine attraktive Handlungsoption für die Kolonialverwaltung. In seinem Bericht aus dem Jahr 1932 hatte das britische Committee on Empire Migration bereits betont, dass ein stetiger Zustrom von Einwander*innen aus der Metropole in die überseeischen Gebiete wünschenswert sei, um die weiße Bevölkerung gleichmäßig über das Empire zu verteilen. Gleichzeitig wurde befürchtet, dass es aufgrund der sinkenden Geburtenrate in Großbritannien einfach nicht genug weiße Siedler*innen für eine Umverteilung geben könnte.52 Um diesen demografischen Engpass zu umgehen, sprach sich das neugegründete British Oversea Settlement Board in einem Bericht von 1938 daher für „die Aufnahme eines sorgfältig regulierten Stroms ausländischer Einwanderer assimilierbarer Art […] nordischer oder anderer europäischer Abstammung“ aus, um die weiße Bevölkerung im gesamten Empire zu stärken und umzuverteilen.53 Hope Simpsons Vorschlag einer kalkulierten Politik der allmählichen und ausgesuchten „Infiltration“ für die Neuansiedlung europäischer Flüchtlinge außerhalb von Europa, wie sie in seiner Studie von 1939 vorlag, stieß daher auf offene Ohren und war eingebettet in einen breiteren Diskurs über die Umwandlung von Flüchtlingen in Siedler*innen.54
Der europäische Flüchtling im Schema der imperialen Bevölkerungsumverteilung
Während Évian normalerweise als Symbol für das Versagen des „nationalstaatlichen“ Systems im Umgang mit Flüchtlingen in den 1930ern interpretiert wird, fügte sich das zentrale wissenschaftlich-statistische Dokument der Konferenz nahezu nahtlos in die ideologische Welt des British Empire ein. Von der Zählung bis hin zu den vorgeschlagenen „Lösungen“ des „Flüchtlingsproblems“ war die vermeintlich neutrale Hope-Simpson-Enquête von der Lehre des kolonialen Bevölkerungsmanagements geprägt. Sie demonstriert somit die Verzahnung imperialer und internationaler Statistik – aber auch deren Auswirkung auf die angewandten Methoden der internationalen Flüchtlingsumsiedlung, die daraus hervorgingen.
Noch im selben Jahr der Veröffentlichung der Hope-Simpson-Studie griffen der britische Journalist Norman Angell und die Aktivistin Dorothy Buxton ausdrücklich auf deren Abschlussbericht zurück, um einen leidenschaftlicheren Appell zur Integration von Flüchtlingen in das British Empire zu formulieren. In ihrem Manifest argumentierten sie, dass ein fortgesetzter britischer Isolationismus nur die wirtschaftliche Stagnation verlängern und den Untergang des weißen Empire beschleunigen würde. Ob man sie nun bemitleidete oder nicht, die europäischen Flüchtlinge könnten die rettende Gnade der imperialen Bevölkerung darstellen. Im Gegensatz zu Hope Simpson gingen Angell und Buxton auch über eine maßvolle Infiltration hinaus und betrachteten die massenhafte Umsiedlung in ein „riesiges, unentwickeltes Land“ wie Australien als praktikable Option – zumal Flüchtlinge angesichts ihrer fehlenden Möglichkeiten wahrscheinlich eine höhere „Bereitschaft zur Härte“ aufbringen würden als gewöhnliche Siedler*innen.55 „Kann ein allgemeines Eigeninteresse uns dorthin bringen, wo die Menschlichkeit versagt?“, fragten Angell und Buxton am Vorabend des Zweiten Weltkriegs und drängten auf eine Umkehrung der Einwanderungspolitik im gesamten Commonwealth. „In ein paar Jahren könnte sich die Lage völlig ändern, und es könnte ein eifriger Wettbewerb um die überlebenden Flüchtlinge entstehen. Bis dahin werden die Besten untergegangen sein“.56
Obwohl die Ideen zur Umverteilung der Bevölkerung des British Empire nie genau so umgesetzt wurden, wie es sich Hope Simpson oder Angell und Buxton gewünscht hatten, spiegelten sie sich in der Umsiedlungspolitik für die Millionen europäischer Flüchtlinge und Displaced Persons (DPs) nach dem Zweiten Weltkrieg wider.57 Neben der körperlichen Eignung bestimmten die rassistischen Merkmale der Nachkriegsflüchtlinge – von denen viele aus Osteuropa stammten und nicht in die nun unter sowjetischer Herrschaft stehenden Länder repatriiert werden wollten – ihre Migrationsrouten innerhalb des Commonwealth. Zwischen 1947 und 1952 nahm die australische Regierung rund 170.000 DPs auf, die mit Hilfe der Organisation internationale pour les réfugiés (IRO) den Weg über den Ozean fanden. Sie waren „vorzugsweise hellhäutig“ und ließen sich leicht in „assimilierbare ‚weiße’ Migranten“ verwandeln, um das enttäuschende Fehlen britischer Nachkriegssiedler auszugleichen“.58
In den späten 1940er Jahren warb Großbritannien dann im Rahmen des European Volunteer Workers (EVW)-Programms um dieselben Flüchtlinge, die den Ärmelkanal überqueren und den „britischen Bestand“ ersetzen sollten, den das Innenministerium vorsah in die Dominions zu schicken, um die imperialen Bindungen wieder zu stärken.59 Die Royal Commission on Population, die 1944 mit einer großen Studie über die britische Bevölkerungsentwicklung beauftragt worden war, kam in ihrem Abschlussbericht 1949 zu dem Schluss, dass „ein Nettozuwanderungssaldo von 140.000 jungen Erwachsenen“ von Vorteil wäre, um sowohl dem allgemeinen Geburtenrückgang als auch den gleichzeitigen Auswanderungsplänen entgegenzuwirken, die für die „Aufrechterhaltung und Stärkung des britischen Elements im Commonwealth“ erforderlich waren.60 Obwohl der Bericht die EVWs positiv erwähnte, warnte er die Leser*innen zugleich vor dem schwindenden Angebot an solch „gutem menschlichen Material“, das leicht assimiliert werden könnte.61 Die kalkulierte Aufnahme bestimmter Kontinentalflüchtlinge wurde eindeutig der Einwanderung nicht-weißer britischer Staatsbürger*innen aus Asien oder Afrika vorgezogen.62
Hierbei ist anzumerken, dass die ehemalige britische Kolonialbevölkerung genau zu dem Zeitpunkt größtenteils vom europäischen Nationalstaatenprojekt der Nachkriegszeit ausgeschlossen wurde, als sie statistisch voll erfasst war. Kuczynski, der in den Zwischenkriegsjahren so vehemente Kritik am technischen Stand der Kolonialstatistik übte, setzte sich so lange für eine Rationalisierung der kolonialen Volkszählung ein, bis er endlich in der Lage war, die gesamte britische Kolonialbevölkerung in einer umfangreichen Volkszählung zu erfassen. Das Resultat seiner Bemühungen war der mächtige Demographic Survey of the British Empire, der zwischen 1948 und 1953 in drei Bänden veröffentlich wurde.63 Hope Simpson und seine Nachfolger*innen in der Sozialforschung kämpften unterdessen weiter mit ihrem schwer greifbaren Studienobjekt.64 Die bloße Anwesenheit der Flüchtlinge in Europa stellte ein ständiges Dilemma dar: Im Gegensatz zur Kolonialbevölkerung blieben sie nicht in sicherer Entfernung in Übersee. Stattdessen hoben sie die räumliche Trennung auf und erschienen inmitten der „regulären“ nationalen Bevölkerung – ununterscheidbar, bis die angewandte Sozialforschung sie nach und nach als neuen Typus sichtbar machte. Weder völlig national noch kolonial brauchte der Flüchtling so bis in die 1970er Jahre, um schließlich von den interdisziplinären refugee studies wissenschaftlich vereinnahmt und als Forschungsobjekt nationalisiert zu werden.65 Die koloniale Dimension dessen, wie Flüchtlinge einst in den 1930er Jahren konzeptionell verstanden und praktisch verwaltet wurden, geriet dabei in Vergessenheit.