Einleitung
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts häuften sich in den deutschen Staaten unter dem Namen „Enquête“ Erhebungen im Auftrag der Regierungen oder der Parlamente.1 Unter Enquête (oft auch als „Enquete“ verdeutscht) verstand man zu jener Zeit eine durch die Politik veranlasste Untersuchung mit dem Ziel, eine Wissensgrundlage zu einer politischen, akuten Angelegenheit zu schaffen und einen „lebensnahen Eindruck von der Wirklichkeit des Problems“ zu vermitteln.2 Zum Teil waren konkrete Reformbestrebungen an die Erhebungen geknüpft, in anderen Fällen sollten überhaupt erst Informationen gesammelt werden, um politische Handlungsfähigkeit zu garantieren. Im deutschsprachigen Raum waren es vor allem die Vertreter der jüngeren historischen Schule der Nationalökonomie wie Gustav Schmoller, Lujo Brentano oder Adolph Wagner, die mit der politischen Wissenstechnologie der Enquête die Folgen industrieller Expansion untersuchten und die Frage nach möglichen staatlichen Eingriffsmöglichkeiten in den wirtschaftlichen Prozess erörterten. Ihr Haupteinwand gegen die klassische Nationalökonomie bestand darin, dass ihre Vorstellung von Ökonomie und die Prinzipien ihrer Wirtschaftstheorie nicht mit der „Wirklichkeit“ übereinstimmten. Eine zeitgemäße Wissenschaft der Wirtschaft und der ökonomischen Existenz von Individuen und Gruppen müsste sich eher auf einem Wissen über soziale und ökonomische Tatsachen errichten.3 In diesem Sinne lag ein wesentlicher Fokus der zu dieser Zeit anhebenden Sozialen Frage darin, wie und unter welchen Bedingungen eigentlich Wissen über gesellschaftliche und ökonomische Phänomene produziert werden konnte und wie sich auf Grund solchen Wissens eine Wirtschafts- und Sozialpolitik organisieren ließ, die den Wertvorstellungen des bürgerlichen, reformerischen Milieus entsprach. Die neuen reichsweiten Erhebungsprojekte wie die über die Arbeit von Frauen und Minderjährigen (1873), über die Arbeiter und Lehrlingsverhältnisse in Industrie und Handwerk (1875) oder zur Reform der Eisenbahntarife (1875)4 waren eng an diesen politischen und wissenschaftlichen Paradigmenwechsel geknüpft. Mit ihnen vollzog sich auch ein Wandel im Selbstverständnis der Staatswissenschaften, die von der Ordnung und Systematisierung von bereits existierenden Daten hin zur Erzeugung eigener Daten überging.5 Die Entwicklung und Weiterentwicklung von Erhebungstechniken stellten dabei eine Ressource für die Konstituierung neuer Akteursgruppen dar, die sich über ihr jeweiliges Wissen vom „Sozialen“ bestimmten. Die Praxis der Erhebung und die methodologischen Debatten über ihre Durchführung waren in diesem Sinne ein wesentlicher Bestandteil für die neueren Strömungen empirisch- und historisch-orientierter Nationalökonomie und Statistik,6 für private und staatliche Projekte der Sozialpolitik wie auch für die sich parallel dazu formierende Arbeiter - und Frauenbewegung.7
Im Folgenden wollen wir einige Eckpunkte der Reflexion über Erhebungspraktiken im deutschsprachigen Raum rekonstruieren, die am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert im Rahmen des Vereins für Socialpolitik (VfS) und der frühen Frauenbewegung zirkulierten. Wir entfalten dabei zwei miteinander verbundene Thesen. Zum einen gehen wir davon aus, dass das Ringen um Gesellschaftswissen im Medium der Enquête nicht losgelöst von den zeitgenössischen Auseinandersetzungen um die Bestimmung und die Ordnung sozialer, politischer und ökonomischer Wirklichkeit verstanden werden kann, in denen ihr eine aktive Rolle zukam.8 Zum anderen wollen wir zeigen, wie sich im Zuge der methodologischen Auseinandersetzungen um eine legitime Darstellung der sozialen Wirklichkeit zwischen Nationalökonom*innen, Sozialwissenschaftler*innen, Statistikern und Sozialarbeiterinnen9 die Wissensform der Enquête selbst herauskristallisierte. Insofern fand das Ringen um Methode und Praxis der Enquête immer zugleich auf einer epistemischen, sozialen und politischen Ebene statt. Die Akteur*innen im Zentrum dieses Beitrags debattierten über eine legitime Beschreibungsform der Gesellschaft und kämpften um Wissenschaft als Autoritätsquelle, Medium der Selbstbestimmung und Instrument politischer bzw. sozialer Intervention.
Wir haben uns angewöhnt, die Ergebnisse dieses historischen Ringens um wissenschaftliche Selbstbehauptung in den klaren disziplinären und methodologischen Abgrenzungen zu sehen, wie sie sich nach der Jahrhundertwende (oder gar erst nach dem Zweiten Weltkrieg) konsolidierten. Sei es die Dichotomie von quantitativen und qualitativen Methoden, die Trennung zwischen Sozialer Arbeit und Soziologie oder die Annahme klar abgegrenzter Kulturen der Geistes-, Natur- und Sozialwissenschaften. In Anlehnung an die Arbeiten Alain Desrosières’ verstehen wir die Auseinandersetzungen dieser Zeit nicht vor dem Hintergrund statischer Gegensätze, sondern stellen das Spiel mit den Abgrenzungen und ihre gegenseitigen Bezüge, Interdependenzen und Idiosynkrasien in den Mittelpunkt.10 Der Kampf um die Wissensform der Enquête in der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik erlaubt es uns, die Aufmerksamkeit auf verschiedene Konstellationen zu lenken, in denen beschreibende und numerische Forschungstraditionen miteinander ins Verhältnis traten. Zu nennen wären hier u. a. die auf den Einzelfall abzielenden monografischen Traditionen, die Feldforschung,11 die Buchhaltungswissenschaften12 oder die Tradition statistischer Erhebungen, die über die Eigenlogik und Dynamik „großer Zahlen“13 Regelmäßigkeiten in gesellschaftlichen Verhältnissen zu beleuchten glaubte.14 Die Enquête, wie sie von einigen Akteur*innen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik gedacht und praktiziert wurde, stand für einen genuinen Methodenpluralismus, der es erlaubte, unterschiedliche Denk- und Darstellungstraditionen miteinander ins Verhältnis zu setzen.15
Unsere Thesen entfalten wir anhand von drei Episoden, die wir als Reflexions- und Aneignungsmomente der Enquête verstehen: Zum einen konzentrieren wir uns auf die Debatte der 1870er Jahre um die Praxis der Enquête innerhalb des VfS (1). Dabei fokussieren wir auf die Offenheit des epistemischen und politischen Horizonts der Enquête in den Schriften leitender Figuren des VfS. In einem zweiten Schritt zeigen wir, wie im Zuge der politischen Transformationen der späten 1870er und 1880er Jahre die Praxis der Enquête über ihren anfänglichen Debattenhorizont hinaus weiterentwickelt wurde. Die Erhebungen des Sozialstatistikers Gottlieb Schnapper-Arndt, selbst Mitglied und zugleich Kritiker der Enquêten des VfS, ermöglichen einen Blick sowohl auf die neue politische als auch auf die epistemische Situation der Enquête (2). Im letzten Schritt beleuchten wir die Rezeption der Enquête als Instrument zur Akademisierung und Professionalisierung der Sozialen Arbeit und der Wohlfahrtswissenschaft im deutschsprachigen Raum am Beispiel von Alice Salomon und der Gründung der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit von den 1890er Jahren bis in die frühen 1930er Jahre (3). Diese Beispiele verdeutlichen nicht nur die vielfältigen Deutungen der Enquête im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Der Blick auf die zugleich methodologischen und politischen Auseinandersetzungen um den Begriff der Enquête soll Wege für eine Geschichte des Gesellschaftswissens öffnen, die neben akademischer Disziplinierung auch alternative Orte, Akteur*innen und Kulturen der sozialen Wissensproduktion einbezieht und miteinander ins Gespräch bringen kann.16
Die Enquête-Debatte des VfS: Trennung von Sozialpolitik und Sozialwissenschaft oder Pluralität sozialer Epistemologien um 1900?
Im Narrativ des VfS der 1870er Jahre war die Enquête als Wissenstechnik eng mit der Reorganisation staatlicher Infrastrukturen im Zuge der Reichsgründung verbunden.17 Um soziale und gewerbliche Reformen vorzubereiten und durchzuführen, wurde der Staat selbst als wissensproduzierende Organisation – u. a. durch statistische Erhebungen des 1872 gegründeten Kaiserlichen Statistischen Amtes – tätig. Seit seiner Gründung 1873 sah der VfS seine Kernaufgaben zum einen in der Produktion von Wissen über die Arbeits- und Lebensverhältnisse der arbeitenden Klassen und einer überparteilichen Politikberatung, zum anderen in der Einwirkung auf die öffentliche Meinung.18 Leitlinie der Vereinsarbeit war die Kritik an der liberalen Wirtschaftsdoktrin des laissez faire und die Entwicklung von geregelten Formen staatlicher Wirtschaftsintervention und Fürsorge. Vor 1880 beschränkte sich der Verein dabei auf die Diskussion und Rezeption von legalen, politischen und epistemischen Kriterien der Enquêtenpraxis. So wurden im Gründungsjahr 1873 Gutachten über Enquêten zur „Ermittelung der Wirkungen der Fabrikgesetzgebung“ veröffentlicht und 1877 folgte ein Band über die „Verfahren bei socialen Enqueten“, in dem eine Übersicht vor allem über englische und französische Erhebungspraktiken geliefert wurde. Aus einem dieser Gutachten wird deutlich, dass der Begriff Enquête zwar im deutschen Kontext zu jener Zeit Konjunktur hatte, jedoch keinesfalls eindeutig bestimmt war:
In deutscher Sprache verstehen wir unter einer Enquête nicht nur im täglichen Leben sondern auch in wissenschaftlichen Publicationen Verfahrungsarten von sehr verschiedener Anlage und von ungleichartigem Werthe; nicht den französischen terminus technicus haben wir recipirt, sondern unser Sprachgebrauch bedient sich der „Enquête“ als eines elastischen Gelegenheitsausdruckes, welcher in Wahrheit – da die Gesetze oder eine bestimmte Überlieferung ihm ebenso wenig einen fest umschriebenen Umfang verleihen, wie die Redegewohnheit – thatsächlich immer erst aus den seinen Anwendung begleitenden Umständen concrete Bestimmtheit erhält.19
Ein in solcher Weise offen gehaltenes Verständnis der Enquête und die mit ihm verbundenen Erkenntnistechniken konnten auch als tendenziell bedrohliche Instrumente verstanden werden, insofern sie zum aktiven Wandel des „Bewußtseins“ der Fabrikarbeiter eingesetzt wurden.20 Erhebungen könnten, so hatte beispielsweise Ernst Engel schon 1871 in Aussicht gestellt, eine „statistische Gegenbewegung der Arbeitnehmer“ auslösen, die die Aufgabe hätte, die „Antwort der Arbeitgeber [theils] zu controllieren, theils […] zu ergänzen.“21 Dieser anfänglich noch interaktive und sozialreformerische Impetus der Enquête wandelte sich im Zuge der politischen Repression der Sozialdemokratie. Mit dem Ende der 1870er Jahre verschob der VfS seinen Fokus von der Frage der Industriearbeit auf die Frage der Landbevölkerung. Im angespannten politischen Klima der Sozialistengesetze22 in den 1880er Jahren kann die Distanzierung von akuten Kampfplätzen der Reichspolitik als strategische Absicherung verstanden werden.23 Der Rückzug auf Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit und der Fokus auf die Durchführung eigenständiger Erhebungsprojekte wurde in dem Maße bedeutsamer, wie der VfS seine Praxis der Politikberatung zurückfuhr.24 In diesem Zuge wandelte sich die Enquête im deutschen Kontext von einer ausschließlich staatlichen Praxis zu einer Aufgabe der (Sozial-)Wissenschaft. Dies konnte aber nur realisiert werden, weil die Protagonisten dieses Wandels sowohl Beobachter der Politik (und zum Teil auch Träger politischer Ämter) als auch wissenschaftlich tätig waren. Die Abgrenzung zwischen Sozialpolitik und Sozialwissenschaft, die sich zu jener Zeit vollzog, war ein Produkt dieser Aushandlungen.
In diesem Zusammenhang sind die Debatten der 1880er Jahre über die Aufgabe und Methodologie der Sozialwissenschaften zu verorten. Eine Staats- und Sozialwissenschaft, die nicht auf Spekulationen und Begriffsmetaphysik beruhen wollte, so schrieb Gustav Schmoller, müsse sich „auf den Boden der exakten Detailforschung“, d. h. der Enquête stellen.25 Dabei lehnte er die Unterscheidung zwischen „induktiven und deduktiven“ Methoden, wie auch die zwischen Einzel- und Massenbeobachtung ab. Alle Wissenschaften würden, so Schmoller, „induktiv und deduktiv zugleich verfahren“.26 Jedoch stünde es keiner Wissenschaft vom Menschen zu, für sich einen Blick von außen, „gleichwohl von den Sternen einer anderen Welt“ zu beanspruchen. Schlüssel eines kritischen Selbstverständnisses der Sozialwissenschaften sei die Einsicht, dass „wir immer selbst Theil des Problems [blieben], das wir untersuchen und erkennen“ wollten.27 Dieser Ansatz wurde in der Folge im Rahmen des sogenannten Methodenstreits u. a. von den Anhängern der österreichischen Schule der neoklassischen Nationalökonomie scharf attackiert.28 Für unser Argument ist wesentlich, dass sich im Zuge des Wandels hin zur staatswissenschaftlichen Forschung und in Verbindung mit den strategischen Abgrenzungen zur Politik intensive Kämpfe um den sowohl historischen als auch naturwissenschaftlichen Charakter der Nationalökonomie und der Sozialwissenschaften entfalteten, die Räume zur Imagination alternativer sozialer Epistemologien eröffneten.29 So verkörperte der vom VfS mobilisierte Begriff der Enquête eine Form wissenschaftlicher Praxis, die auf „Durchdringung der Realität“ abzielte und die Frage nach der Theoretisierung ihrer Ergebnisse aufwarf.30 Zum einen trat die Enquête als eine intervenierende und transformierende Methode in den Blick, die gesetzmäßige Zusammenhänge aufspürte und die Nebenfolgen der Implementierung legaler und institutioneller Interventionen beobachtete. Zum anderen wurde mit der Enquête eine Synthese zwischen „induktiver und deduktiver“ Methode zugunsten eines pragmatischen, auf die „Wirklichkeit“ gerichteten Wissenschaftshorizontes angestrebt.31
Die Debatte über die Methodologie der Enquête lässt sich vor diesem Hintergrund in einen übergeordneten Prozess einordnen, den Jens Herold kürzlich als Ausarbeitung eines „pluralistischen Grundverständnisses von Wissenschaft“ beschrieben hat, für das der Fokus auf die Gegenüberstellung „zweier in sich homogener Parteien“ nicht mehr zielführend war.32 Die Trennung der akademischen Sozialwissenschaft (als Soziologie) von der Sozialpolitik war eine Antwortmöglichkeit auf den beschriebenen epistemologischen und politischen Umbruch.33 Wie wir nun am Beispiel der Arbeiten des Sozialstatistikers Gottlieb Schnapper-Arndt zu zeigen versuchen, entsprangen aus diesem Kontext gleichzeitig alternative Enquête-Praktiken, die sich jenseits kategorischer Trennungen von sozialer Theorie und sozialer Praxis zu konsolidieren suchten.
Miniaturstatistik und die Synthese aus Massenbeobachtung und Detailforschung
1846 in eine wohlhabende Kaufmannsfamilie des Frankfurter jüdischen Bürgertums geboren, trieb Gottlieb Schnapper-Arndt nach einem Volontariat am Königlich Preußischen Statistischen Bureau seit dem Ende der 1870er Jahre die Rezeption der monografischen Methode Frédéric Le Plays voran.34 In Berlin erhielt er Anschluss an die jüngere Generation der historischen Schule der Nationalökonomie und wurde Mitglied des VfS. 1878 stellte er im Seminar von Adolph Wagner eine Arbeit „Über Einzelwirtschaftsbudgets und deren Werth als ein Mittel zur Erkenntniß des Volkswohlstandes und der Volkssitten“ vor. 1882 promovierte er sich bei Gustav Rümelin in Tübingen mit der Arbeit Fünf Dorfgemeinden auf dem Hohen Taunus. Eine socialstatistische Untersuchung über Kleinbauernthum, Hausindustrie und Volksleben. Von Anfang an war seine statistische Praxis mit der Frage nach dem Verhältnis von Massenbeobachtung und der detaillierten Untersuchung von Einzelfällen verbunden.
Durch die Wahl seiner Themen wie auch den methodischen und theoretischen Fokus seiner Arbeiten verkörperte Schnapper-Arndt einen neuen Typus „privater Enquêten“, in denen die Abgrenzungsbemühungen gegenüber der Politik, die im VfS seit den 1880er Jahren vorherrschten, zum Ausdruck kamen.35 Hatte das staatsfixierte Enquêtenverständnis seine Autorität aus dem Staatsapparat und der staatlichen Souveränität bezogen,36 so war es für „private“ (i. S. v. nicht-staatlichen) Untersuchungen wesentlich, die Legitimität von Enquêten als eigenständige Instrumente zur Darstellung der Wirklichkeit durch den Bezug auf ihre Wissenschaftlichkeit zu etablieren. Vor allem monografische Untersuchungsformen und Einzelfallforschungen gewannen im Zuge dieser Absetzungsbewegung an Bedeutung. Sie boten ein Feld, das im Gegensatz zu großangelegten statistischen Erhebungen mit den begrenzten materiellen und personellen Ressourcen nicht-staatlicher Akteure praktisch besetzt werden konnte. Es wäre allerdings verfehlt, die Fokussierung auf einzelne Fälle und klar abgegrenzte Gegenstandsbereiche mit der Unterscheidung von Einzel- und Massenbeobachtung oder von qualitativen und quantitativen Ansätzen fassen zu wollen. Was sich hier wandelte, war weniger das Verhältnis beschreibender und numerischer Methoden als vielmehr die Skalierung bzw. die Beobachtungsebene, die mit den lokalen Wissensprojekten in den Blick trat.37
In seiner Heimatstadt Frankfurt am Main war Gottlieb Schnapper-Arndt seit den 1880er Jahren am Aufbau der Volkswirtschaftlichen Sektion38 des Freien Deutschen Hochstifts beteiligt. Vereine und private Organisationen wie das Hochstift entwickelten sich zu Orten, an denen verschiedene Methoden der Enquête diskutiert und in der Praxis erprobt wurden.39 Das Hochstift war ein in Erinnerung an die Revolution von 1848 gegründeter Verein Frankfurter Bürger, der bis zur Eröffnung der Frankfurter Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften 1901 partiell die Aufgaben der höheren Lehre u. a. in sozialwissenschaftlichen und volkswirtschaftlichen Fragen übernahm.40 Gottlieb Schnapper-Arndt verstand seine Arbeit am Hochstift als einen Beitrag zum Projekt einer Neuausrichtung der Nationalökonomie (i. S. v. Schmollers), die „zur Erkennung der volkswirtschaftlichen Gesetze“ über den Weg „exakter Erforschung und Beobachtung einzelner, abgegrenzter volkswirtschaftlicher Thatsachen […]“ voranzuschreiten hätte, sowohl auf dem „Wege der Massenbeobachtung“ als auch „durch Feststellung des Verlaufs eines einzelnen bestimmten Vorganges“.41 Im Rahmen des Hochstifts wurden etliche lokale Erhebungen zu Fragen der Lebenshaltung verschiedener Gewerbe, der Arbeitsverhältnisse und Arbeitslosigkeit oder Wohnungsfrage durchgeführt und 1893 der erste Soziale Kongress zur Frage der Arbeitslosigkeit in Deutschland ausgerichtet.42
Gottlieb Schnapper-Arndts Forschungspraxis war mit eigenständigen reflexiven und methodologischen Diskursen zur Enquête verbunden, die in Hinblick auf die Herausforderungen des jeweiligen Beobachtungsgegenstandes entwickelt wurden.43 Überlegungen wie sie etwa seine Schrift Fünf Dorfgemeinden auf dem Hohen Taunus (1883) lieferte, erschlossen so beispielsweise die Hausindustrie als neues Forschungsfeld empiriebasierter Nationalökonomie.44 Die Synthese, die seine Enquête zwischen den Erfordernissen des Gegenstandes und dem verfügbaren methodologischen Instrumentarium vollzog, operierte nicht mit statischen Dichotomien von Einzelbeschreibung vs. Massenbeobachtung. Ein methodisches Leitprinzip der Arbeit Schnapper-Arndts bestand darin, die eng begrenzten Gegenstände seiner Beobachtung selbst als Mannigfaltigkeiten zu begreifen. Nicht nur konnte die „genaue Durchforschung engumgrenzter Objekte in manchen Fällen, die Wirksamkeit sozialer Faktoren mindestens ebenso sicher wie die Massenbeobachtung erkennen“, auch die Unterscheidung von Einzelfall und Masse wurde in dem Moment hinfällig, in dem gewissermaßen durch den Blick des Mikroskops, „das scheinbar Gleiche und Einfache von neuem als Mannigfaltiges“ und das scheinbar Stillstehende „als in rascher Bewegung ergriffen“ erschien. Für seine Untersuchungen schlug er daher den Begriff der „Miniaturstatistik“ vor.45
Einen wesentlichen Platz in seinem Beobachtungsinstrumentarium nahm die von Frédéric Le Play entwickelte Methode der Haushaltsbudgets ein. Sie bestand aus längeren Beobachtungsaufenthalten vor Ort, persönlichen Befragungen und Messungen sowie der Sammlung von Literatur und offiziellen Dokumenten. Den Kern dieser Arbeitsform bildete für ihn der „moralische Mut“, mit dem Frédéric Le Play das Detail als ein irreduzibles Element bei der Darstellung der sozialen Wirklichkeit in Anschlag gebracht hatte. Der Fokus auf das Detail und den einzelnen Fall war dabei nicht mit einem Votum gegen jegliche Form von Quantifizierung verbunden. Im Gegenteil bestand die Aufgabe der Detailarbeit gerade darin, „durch die zahlenmäßige und gleichzeitig durch das Wort ausgiebig kommentierte Darstellung das Lebensbild eines wirtschaftlichen Mikroorganismus zu gewinnen“.46
Der Anspruch der Enquête, wie Schnapper-Arndt sie verstand, bestand zudem darin, „den Leser“ durch die „Mittheilung lebendiger Details möglichst selbstständig zu stellen“.47 Dabei spielte die metrologische und rechnerische Genauigkeit der Beobachtung,48 die in langen Tabellen den Enquêten angefügt waren, eine ebenso wesentliche Rolle wie die Möglichkeit der Einfühlung und des Erlebens in die Umstände der dargestellten Situation.49 Die monografische Beschreibung Nährikele50 über die Weißzeugnäherin Friederike Herrmann liefert ein Beispiel für den experimentellen und prinzipiell offenen Charakter der Schnapper-Arndt’schen Enquêten. Er führte an ihrem Fall seine im Taunus begonnenen Erhebungen zur Hausindustrie weiter, mit dem Unterschied, dass nun nicht mehr das Dorf, sondern eine alleinstehende Näherin aus dem Schwarzwald den Gegenstand der Untersuchung bildete.51 Auf Grundlage von unterschiedlichen Materialien und Zeugnissen wie Mitschriften von Gesprächen, Besichtigungen der Wohnung, urkundlichem Material, dem von Frederike Herrmann geführten Haushaltsbuch und einem über zehn Jahre andauernden Briefwechsel52 entwickelte Gottlieb Schnapper-Arndt ihre „wirthschaftliche Biographie“, die zugleich für das Schicksal der Frauen in der ländlichen Hausindustrie und ihren „zähen Lebenskampf“ stehen konnte.53 Dem narrativen Teil der Lebensbeschreibung folgte ein umfänglicher Anhang, der minutiös die Lebensführung sowie die Einnahmen und den Verbrauch Herrmanns im ökonomischen und physiologischen Sinne, d. h. hinsichtlich der Nährwerte quantifizierte.54 Außerdem mischten sich sowohl im Anhang als auch im Haupttext zahlenmäßige und narrative Elemente in ungezwungener Weise. Den Zahlen kam dabei nicht die Aufgabe zu, den Gegenstand von seiner Individualität zu bereinigen. Sie waren vielmehr das Medium, in dem sich eine Individualisierung des Gegenstands vollzog, die sowohl den Raum für die Einfühlung und Interaktion durch den Leser schuf als auch eine Garantie gegen unzulässige Verallgemeinerungen.
Wie Gottlieb Schnapper-Arndt bereits 1888 in einer Reflexion zur Methodologie sozialer Enquêten vor dem VfS deutlich gemacht hatte, bestand das wesentliche theoretische Problem der Praxis der Enquête – ganz gleich ob sie auf Massenbeobachtung oder Einzelfällen beruhte – darin, den Raum der Spekulation, d. h. der unreflektierten Vorannahmen durch Anbringen von „Zeugnissen und die Vervielfältigung der Erkenntnisquellen“ zu reduzieren.55 Der Aufbau eines solchen „Bekundungssystems“,56 wie es sich beispielhaft in den materialreichen Anhängen der Enquêten abgedruckt fand, bildete das Medium einer Sozialbetrachtung, in der sich eine eigentümliche Verbindung numerischer, narrativer, affektiver und interaktiver Elemente vollzog. Die Herausforderung der Enquête als empirischer Beschreibungstechnik lag darin, eine soziale Lebensform auf eine Weise aus ihren „Details zu konstruieren“, die sowohl das Individuelle wie auch das Typische zum Vorschein bringen konnte, dabei aber keinen Anspruch auf eine letztgültige Darstellung erhob.57 Seine Kritik an der Arbeit des VfS und seine methodologischen Überlegungen richteten sich dabei nicht gegen eine fehlende Trennung zwischen Politik und Wissenschaft. Die Form „sozialer Forschung“, die er vorschlug, verfolgte vielmehr das Ziel, wissenschaftliche Sozialpolitik auf eine methodologische Grundlage zu stellen. „Die Enquete“, so hieß es kategorisch, „darf nicht Stimmung sein.“58 „Soziale Forschung“59 musste sich deutlich vom „Stimmungsbericht“ unterscheiden können, indem Vorannahmen nicht ohne kritische Reflexion reproduziert wurden. Sie lief nicht auf die Vorstellung einer (Wert-)Neutralität des forschenden Subjekts oder einen schlichten Appell an die „Vorurteilslosigkeit“60 hinaus. Ganz im Gegenteil begrüßte Schnapper-Arndt die Formulierung eigener Standpunkte, insofern diese auf Grundlage eines „Urmaterials“ und eines „Bekundungssystems“ getroffen wurde, das die Wirklichkeit des Problems in seinen Facetten und seiner Vielstimmigkeit zum Ausdruck brachte. Resoluter Methodenpluralismus und entschiedene „Quellenkritik“61 waren die zwei wesentlichen Erfordernisse einer sozialen Epistemologie, welche die Enquête als Medium einer „sachlichen“62 Debatte um Sozialpolitik etablieren wollte.
Frauenbewegung und Enquêtenkultur in der Weimarer Republik
Auch in der den reformerischen Milieus nahestehenden bürgerlichen Frauenbewegung und in der entstehenden Sozialen Arbeit wurde um 1900 über die Praxis und Methodologie der Enquête diskutiert. 1893 wurde die „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“ in Berlin mit dem Ziel gegründet, Frauen aus den höheren Schichten im Bereich der Wohlfahrtspflege und Armenfürsorge auszubilden. Diese Gruppen wurden ab 1899 von Alice Salomon63 geleitet, welche 1908 auch die erste Soziale Frauenschule in Berlin-Schöneberg gründete. In diesem Kontext fungierte die Enquête einerseits als Medium einer selbstständigen „wissenschaftlichen“ Beschreibung sozialer Probleme, anderseits als Methode, die ein berufliches und wissenschaftliches Feld umriss, das sich von der sich ausbildenden akademischen Sozialwissenschaft abgrenzte. Neben den Vorschlägen des VfS und Gottlieb Schnapper-Arndts tritt mit der Enquêtenpraxis der Sozialen Arbeit eine dritte epistemologische Konstellation in den Blick, die sich im Zuge der Umbrüche im Feld der Sozialpolitik Ende des 19. Jahrhunderts formierte. Für Alice Salomon und ihre Anhängerinnen stellte die Enquête, sei es in Form der Einzelfallanalyse oder der Auswertung statistischer Daten, ein Instrument der Intervention in die sozialen Verhältnisse dar. Als „sociologische Untersuchung“ war die Enquête für Alice Salomon eine Chance für die Frauenbewegung, Gesellschaftswissen selbst zu produzieren und nicht auf das Wissen anderer angewiesen zu sein. Ihre Inspiration fand sie sowohl in den Haushaltsbudgets Le Plays als auch in der britischen und US-amerikanischen Settlement-Bewegung. Im Anschluss an Charles Booth plädierte sie für ein Verfahren, das sowohl auf „statistischen Zahlen“ als auch auf „intensiver Erfahrung“ basierte.64 Sie empfahl besonders drei Quellen: die Urkunde, die persönliche Beobachtung und das Interview. Wie bei Gottlieb Schnapper-Arndt widersprachen sich Statistiken und „persönliche Beobachtung“ von Einzelfällen keinesfalls. Ihre gezielte Kombination machte es laut Alice Salomon erst möglich, Aussagen über gesellschaftspolitische Probleme treffen zu können. Dabei sollte die kühle Betrachtung von Zahlen und Urkunden die nötige Distanz liefern, um die Aussagen der Einzelnen auszugleichen. Salomon schloss sich hier an die Tradition der weiblichen Fabrikinspektion an, wie sie von Jeannette Schwerin Ende des 19. Jahrhunderts im deutschen Kontext geprägt wurde.65 Der besondere Blick der Fabrikinspektorinnen auf soziale Verhältnisse und die Arbeitsbedingungen von Fabrikarbeiterinnen bestand aus der Gleichzeitigkeit von Nähe zu den Beobachteten aufgrund des Geschlechts66 und Distanz aufgrund der Zugehörigkeit zur gehobenen Klasse.
Diese besondere Positionierung der frühen Sozialen Arbeit, die auf der Untrennbarkeit von Praxis und Theorie, von Wissenschaft und politischer Handlung basierte, mündete 1925 in die Gründung der Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit, als „Hochschule der Frauen“ bezeichnet, die sowohl der Aus- und Weiterbildung verschiedener Gruppen von Frauen als auch der empirischen Forschung gewidmet war. Ab 1928 führte die Akademie ein Großprojekt über den sozialen Wandel der Familie als Institution unter dem Namen „Bestand und Erschütterung der Familie in der Gegenwart“ durch.67 Das Thema Familie wurde nicht zufällig gewählt. Zum einen wurde es von der Akademie als ein Gebiet angesehen, „auf dem die Frau besonderer Erfahrungen und einer besonderen schöpferischen Einstellung fähig ist“68 und mit dem „die der Akademie nahestehenden Kreise der Lehrerinnen, Jugendleiterinnen, Sozialbeamtinnen, Akademikerinnen durch ihren Beruf fortgesetzt […] in Berührung kommen“.69 Zum anderen galt der „Familienzusammenhang als die Grundlage aller staatlichen und nationalen Wohlfahrt“,70 also als ein sozialpolitisch relevantes Thema.
Laut Alice Salomon lagen zur Zeit der Studie lediglich „Meinungen, Auffassungen, Behauptungen, Werturteile“ zum Stand und Wandel der Familie vor, „die aber nicht auf Tatsachen oder Feststellungen von umfassender Bedeutung ruh[t]en“.71 Ähnlich wie bei Gottlieb Schnapper-Arndt sollte durch die Kombination verschiedener Methoden und Darstellungsformen sichergestellt werden, dass nicht Meinungen oder Stimmungen zum Gegenstand der Erhebung wurden, sondern die Sache selbst. Für den Forschungsgegenstand Familie wurde der Zugang allerdings zusätzlich dadurch erschwert, so Alice Salomon, dass sie in einer von bürgerlichen Wertvorstellungen geprägten Gesellschaft der Privatsphäre zugeordnet wurde:
Die Sitte macht alles, was innerhalb einer Familie vorgeht, zu einer vertraulichen Angelegenheit, und jedes Eindringen und jede Einmischung ist nur durch schwerwiegende Gründe zu rechtfertigen. […] Daraus ergeben sich Widerstände für die Erforschung der Verhaltungsweise der einzelnen Familie, die überwunden werden müssen, weil ohne Vertrautheit mit dem Verhalten einzelner Familien eine Kenntnis und Bewertung der Institution der Familie unmöglich ist.72
An dieser Stelle war die professionelle Stellung der Sozialarbeiterin zwischen Distanz und Intimität von besonderem Vorteil. Salomon war davon überzeugt, dass „ein Fremder wesentlich tiefer die Beziehungen der Familienmitglieder erfassen“ konnte als die Individuen selbst: „Es ist den meisten Menschen kaum möglich, ohne Selbsttäuschung oder Voreingenommenheit etwas über die eigene Familie auszusagen.“73 Für die Durchführung der Forschung sollte die externe Beobachterin „eine über längere Zeit sich erstreckende Beziehung zu einer Familie“74 pflegen, um die nötige „Vertrautheit“ aufzubauen. Ziel der Forschung war es, „objektive, aus dem Verstand allein herrührende Beurteilungen“ über die Familie zu fassen, die sich einerseits von allgemeinen „Meinungen“ und „Werturteilen“ abgrenzten, und andererseits von „Gefühlsmomente[n]“ und „Empfindungsleben“75 der Einzelnen über die eigene Erfahrung abhoben.
Um der Komplexität des Zusammenspiels zwischen der Mikroebene einzelner familiärer Gemeinschaften und der Makroebene der Institution Familie gerecht zu werden, schlug Alice Salomon eine Methodenkombination vor. Aussagen über die Institution Familie im Allgemeinen könnten laut ihr durch die Befragung einzelner Individuen und die eingehende Betrachtung einzelner Familienkonstellationen formuliert werden, sofern eine kritische Masse an Einzelbeobachtungen vorlag.76 Die in Anlehnung an Frédéric Le Play entwickelte Methode der Familienmonografie stellte somit den zentralen Baustein des Forschungsvorhabens dar. Die Familienmonografie präsentierte sich als halbseitige bis 2-seitige Beschreibung einer bestimmten Familie entlang eines standardisierten Fragebogens (Beruf und Alter der Familienmitglieder, Arbeitsteilung, Wohnraum, Wirtschaft und Budget, Gesundheit, geistiges Leben, Erziehung, Familienverbundenheit).77 Die Typenbildung ermöglichte dann, vom Einzelfall zu abstrahieren und Aussagen über den Wandel der Familie als Institution im Allgemeinen zu treffen.78 Zudem sollten die Familienmonografien durch die Analyse amtlicher und privater Statistiken ergänzt werden.79 In Kontrast zur „intensiven“ monografischen Beschäftigung mit Einzelfällen wird die statistische Methode als „extensive“ Beleuchtung eines „Gesamtproblems“ dargestellt, „die Erscheinungen von ihrem ziffernmäßigen und deshalb vereinfachten Ausdruck zu verstehen sucht.“80 Das von Alice Salomon konzipierte Forschungsprogramm vereinte somit Epistemologien aus der Nationalökonomie, aus der Statistik, aus der monografischen Tradition und aus der direkten Praxis der Sozialen Arbeit.81
Fazit
Der Import des Begriffs Enquête und seine Konjunktur im deutschsprachigen Diskurs der Nationalökonomie und Sozialforschung waren in einen grundlegenden Wandel der Bedingungen und Möglichkeiten staatlicher Wissensproduktion und staatlicher Wissenspolitik im Kaiserreich in den 1870er und 1880er Jahren eingebettet. In den Debatten um die Prägung des Begriffs und seine verschiedenen Praxisformen spannte sich ein bislang wenig erkundetes Feld wissenschaftlicher Sozialpolitik bzw. politischer Sozialwissenschaften auf. Der Bezug auf den „elastischen Gelegenheitsausdruck“ Enquête erlaubte es, unterschiedliche Vorstellungen und Methodologien der Bestimmung und Darstellung sozialer Wirklichkeit zu vereinbaren. Die Rezeption und Aneignung der Enquête ging dabei nicht nur Hand in Hand mit unterschiedlichen Konzeptionen von Gesellschaftswissen, sondern stand zugleich für unterschiedliche Auffassungen bezüglich des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik. Die drei hier vorgestellten Ansätze mobilisierten jeweils spezifische Formen des Spiels und der Synthese von statistischen und monografischen Untersuchungs- und Darstellungsformen, extensiver und intensiver Beschreibung, Massenbeobachtung und Einzelfallbeobachtung. In diesem Sinne öffnet der Fokus auf die Enquête einen Zugang zum komplexen sozio-epistemologischen Ringen um Darstellung der Wirklichkeit und gesellschaftliche Transformation am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert.
Bei Alice Salomon fungierte die Enquête als Versuch, unterschiedliche Logiken aus den Welten der Nationalökonomie, der Statistik, der Wohlfahrtspflege und der Sozialen Arbeit zu kombinieren und diese produktiv miteinander in Dialog treten zu lassen. Das professionelle Ethos der Sozialarbeiterin zwischen Nähe und Distanz wurde zum epistemologischen und methodologischen Standpunkt, zur Forschungsethik. Im Falle Gottlieb Schnapper-Arndts wird die Besonderheit der sozialen Epistemologie der Enquête und ihre wissenschaftshistorische Relevanz erst dann deutlich, wenn wir sie im Kontext des politischen Spannungsfeldes von Sozialwissenschaft und Sozialismus nach 1878 einbetten. Eine Konstellation aus Nationalökonomie und einem von Le Play inspirierten Ansatz der „Sozialstatistik“ lieferte hier erste Elemente einer Selbstbestimmung von „privaten“, d. h. vom Staat unabhängigen Projekten zur Produktion von Gesellschaftswissen.
Inwiefern die hier geschilderten methodologischen Reflexionen und Praktiken in die empirische Sozialforschung der Nachkriegszeit einflossen, ist bislang von der Soziologiegeschichte nicht erforscht worden.82 Auch die Wirkungsgeschichte eines pluralistischen Enquêtenverständnisses als intervenierender Praxis über die Jahrhundertwende hinaus wurde bislang in der Historiografie nur am Rande verfolgt. Unser Beitrag versteht sich deshalb auch als Vorschlag, das historisch-kritische Beschreibungsvokabular der Geschichte der Sozialforschung zu differenzieren, um diese und andere Rezeptionsstränge und Akteursgruppen im Rahmen einer Wissens- und Wissenschaftsgeschichte der Enquête zusammenzudenken. Auf diese Weise werden auch längere Kontinuitätslinien und Brüche in der Geschichte der Sozialforschung greifbar, die es erlauben, methodologische Auseinandersetzungen um die wissenschaftliche Sozialpolitik bzw. politische Sozialwissenschaft des späten 19. Jahrhunderts mit Kämpfen und Herausforderungen der Gegenwart zu verbinden.