Einleitung
In der Geschichte der Wohnungsenquêten gehört die Untersuchung des Bunds der Berliner Grundbesitzervereine von 1906 sicherlich zu den kurioseren Unternehmungen. Lanciert wurde sie gegen die Wohnungsenquête der Berliner Ortskrankenkasse der Kaufleute, Handelsleute und Apotheker1 unter Leitung von Albert Kohn. Am 16. Juli desselben Jahres hatte Die Zeit am Montag über den sechsten Jahrgang von Kohns Wohnungsenquête berichtet und dabei polemisch auf den bereits schwelenden Streit mit dem Grundbesitzerbund reagiert: „Wer von denen, die im Ueberfluß schwelgen, wird es glauben wollen, daß in dem glänzenden Berlin arme Kranke in beinahe widerlichen Höhlen oft eng mit Gesunden zusammenhausen und Not leiden“.2 Um das Berliner Publikum vom Elend dieser „Höhlen“ zu überzeugen, hatte die Zeitung einige Berichte aus der Enquête abgedruckt, damit die „wahrheitsgemäßen Beschreibungen ohne Lamento für sich selbst sprechen.“3 Zwei Monate nach Erscheinen des Artikels hatte der Vorstand des Grundbesitzerbunds es sich zur Aufgabe gemacht, die „höchst tendenziöse Mitteilung“4 der Enquête durch eine Gegenuntersuchung ins rechte Licht zu rücken. Im Stil eines interaktiven Antagonismus, der typisch für Enquêten des ausgehenden 19. Jahrhunderts war,5 konstatierten die Vorstandsmitglieder, dass sie die Wohnungen einer Gegenvisite unterworfen hatten. In keiner der besichtigten Wohnungen vermeinten sie das von Kohn konstatierte Wohnungselend ausmachen zu können, vielmehr seien die in der Enquête „aufgestellten Behauptungen vielfach unwahr, mindestens aber sehr stark übertrieben“.6 Die betroffenen Hausbesitzer*innen selbst seien „über den fraglichen Zeitungsartikel empört“. Anders als die Enquête sah der Vorstand des Grundbesitzerbunds nicht bauliche Mängel, sondern die Armut der Bewohner*innen als Hauptursache für deren Elend. Aber auch die Untersuchungsmethode wurde kritisiert, „der Verfasser der Enquête“ habe „recht eigenartige Mittel angewandt, um auf den der Broschüre beigefügten Bildern einen besonders drastischen Eindruck zu erzielen“.7 So seien etwa in der Pücklerstraße „zwei fremde Kinder vom Hofe herbeigeholt und mitphotographiert“8 worden, um die Wohnung überfüllter erscheinen zu lassen.
Die Gegenuntersuchung des Berliner Grundbesitzerbunds, veröffentlicht in einer Mitgliederzeitschrift, muss sicherlich primär als Polemik einer Lobbyistenvereinigung angesehen werden. In ihrer Kritik von Kausalität, Methodik und hyperbolischer Darstellungsweise legt sie aber gleichzeitig den Blick auf die grundsätzliche Unsicherheit frei, wie eine Wohnung um 1900 zu untersuchen war. Dieser Beitrag möchte dieser Unsicherheit genauer auf den Grund gehen und sich dabei besonders mit den Wohnungsenquêten der deutschen Ortskrankenkassen beschäftigen, die seit 1901 in einer ganzen Reihe von Städten des Deutschen Reichs angestellt worden waren. Es wird zu zeigen sein, dass sich diese Wohnungsuntersuchungen an ein weites und gut bestelltes Feld hygienischer, statistischer und städtebaulicher Enquêten anschlossen, dabei jedoch überaus eigenwillige „Untersuchungsstile“ hervorbrachten. Oft von nicht akademisch sozialisierten Personen angeleitet, bedienten die Wohnungsenquêten der Krankenkassen eine Vielzahl von Darstellungsregistern und entziehen sich jeglicher Einordnung in das quantitativ-qualitative Spektrum.
Um die Untersuchungsweise der Krankenkassen begreifen zu können, ist zunächst ein genauerer Blick auf das epistemische Umfeld vonnöten, in das sich die Krankenkassenenquêten einschrieben. Der erste Teil dieses Beitrags wird daher die diskursiven Rahmenbedingungen skizzieren, in dem sich Wohnungsenquêten um 1900 bewegten. Der Begriff des „Untersuchungsstils“ soll dabei helfen, die Spezifität der Krankenkassenenquêten näher zu fassen. Der zweite Teil wirft ein Schlaglicht auf die wahrscheinlich berühmteste Krankenkassenenquête ihrer Zeit: Albert Kohns Wohnungsenquête der Berliner Ortskrankenkasse der Kaufleute, Handelsleute und Apotheker. Sie brachte in das Feld der Wohnungserhebungen einen bisher ungekannten Untersuchungsstil ins Spiel, der schon bald harsche Kritik nach sich zog. Dessen ungeachtet entwickelte Kohns Arbeit eine Strahlkraft, die weit über Berlin hinausreichte. Im dritten Teil werden daher exemplarische Wohnungsenquêten aus weiteren Großstädten des Kaiserreichs portraitiert, die einerseits an Kohns Methodik anschlossen, andererseits aber ihre ganz eigenen Untersuchungsstile hervorbrachten.
Wohnungsenquête oder Wohnungsstatistik?
Im großen Panorama der europäischen Sozialenquêten um 1900 nahmen Wohnungsuntersuchungen einen wichtigen Platz ein. Seit den 1830er Jahren hatte sich die Untersuchung hygienischer Wohnverhältnisse mit Pionierarbeiten von Akteur*innen des öffentlichen Gesundheitswesens aus Belgien, Großbritannien und Frankreich entwickelt.9 Sieht man von einigen Einzelstudien ab, begannen die deutschen Wohnungsenquêten erst in den 1880er Jahren an Bedeutung zu gewinnen. Mit dem Aufschwung der Sozialhygiene wurde schon bald eine Institutionalisierung der Wohnungsuntersuchung gefordert, die sich am englischen Modell der sanitary inspection anlehnen sollte; seit den 1890er Jahren führten immer mehr Kommunen eine obligatorische Wohnungsinspektion ein, deren Verantwortung teilweise bei den Polizeiämtern, teilweise bei eigens dafür geschaffenen Wohnungsämtern lag. Durch eine einheitliche Wohnungsgesetzgebung und die damit verbundene Wohnungsinspektion sollte gewährleistet werden, dass hygienische und bautechnische Mindeststandards festgelegt und eingehalten, aber auch moralisch vermeintlich fragwürdige Praktiken wie das Schlafgängerwesen eingedämmt wurden.10 Trotzdem existierte auch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts noch keine reichsübergreifende Wohnungsgesetzgebung, so dass es in vielen Staaten, etwa in Preußen, überhaupt keine Wohnungsinspektion gab. Dieser Mangel rief nicht-staatliche Akteur*innen auf den Plan, um miserable Wohnungszustände zu dokumentieren.11
Die Krankenkassen, die sich ab 1900 für die Untersuchung schadhafter Wohnungen interessierten, bauten ihre Arbeiten auf sozialhygienische Untersuchungen auf, die seit den 1870er Jahren versuchten, Krankheit und Wohnung epistemisch zu korrelieren.12 Wohnungsenquêten wurden nicht nur von den Krankenkassen, sondern auch im Auftrag der Kommunen oder von gemeinnützigen Vereinen13 durchgeführt. Die Expertise variierte dabei enorm: Neben Autodidakt*innen befassten sich eine ganze Reihe disziplinär ausgebildeter Expert*innen wie Architekt*innen,14 Hygieniker*innen,15 Nationalökonom*innen16 oder Statistiker*innen17 mit der Untersuchung problematischer Wohnungsverhältnisse.
Ein zentraler Grund für diese unterschiedlichen methodischen Zugriffe war, dass sich die einschlägigen Expert*innen alles andere als einig waren, wie eine Wohnung zu untersuchen war. Exemplarisch zeigt dies eine Debatte auf der Berliner Internationalen Konferenz für Hygiene und Demographie von 1907, in der kontrovers darüber diskutiert wurde, ob die Wohnungsstatistik das geeignete Instrument zur Erfassung einer Wohnung war.18 Viele Demograf*innen sahen die Wohnungsaufnahmen der statistischen Ämter im Rahmen der periodischen Volkszählung als völlig ausreichend an, um Wohnungszustände national und international erfassen und vergleichen zu können. Der auf der Hygienekonferenz von 1907 referierende Nationalökonom Ludwig Pohle etwa befand die amtliche Wohnungsstatistik als potent genug, um damit ein zeitlich und geografisch vergleichbares Datenmaterial über Wohnungszustände in deutschen Großstädten zu erheben.19 Ein zentrales Werkzeug für diese Vergleichbarkeit war dabei die sogenannte „Wohndichtigkeit“. Mit dieser Kennziffer sollte die hygienische Qualität einer Wohnung anhand der Anzahl von Bewohner*innen pro Zimmer gemessen werden. Ob ein Zimmer gesund war oder nicht, hing davon ab, wieviel Luftraum pro Bewohner*in zur Verfügung stand. In Deutschland war diese nach einer kontroversen Debatte vom Verein für öffentliche Gesundheitspflege Anfang der 1890er Jahre auf 10 cbm Luft pro erwachsene Person (5 cbm für Kinder) und Schlafraum festgelegt worden, in Frankreich wurden hingegen 14 cbm als Grenzwert angesehen.20 Pohle betrachtete die Belegungsquote als wichtigste Kennzahl der Wohnungsuntersuchung.
Gegen Pohles Verteidigung der amtlichen Wohnungsstatistik gab es grundlegende Einwände. Der ebenfalls in Berlin referierende Statistiker Wilhelm Böhmert betonte die grundsätzliche epistemische Unsicherheit der Wohnungsstatistik. Denn letztendlich war es aus statistischer Sicht völlig unklar, was überhaupt unter einer Wohnung, einem Zimmer, oder einem Wohnraum zu verstehen war.
Ist eine Bodenkammer, ein Alkoven, ein Flur, ein Verschlag auf dem Boden, in dem geschlafen oder gewohnt wird, ist eine sogenannte Wohnküche ein Wohnraum oder ein Zimmer? Es ist charakteristisch, daß wir fast bei keiner der bisher verwendete Formularien für die Wohnungsaufnahmen auf den Versuch einer Definition dieses fundamentalen Begriffs der Wohnungsstatistik stoßen.21
Diese Definitionsschwierigkeiten erschöpften sich jedoch nicht in den Grundkategorien des Wohnraums. Wie Böhmert zeigte, wies auch die zweite als ideale Maßzahl beschworene Größe, der Mindestluftraum, Probleme auf. Wie er ausführte, klaffte eine eklatante Lücke zwischen theoretischem und praktischem Luftraum. Gerade in hygienischer Hinsicht käme es auf die „Möglichkeit der Durchlüftung“ und „ihre tatsächliche Handhabung“ sowie die „Qualität der Luft und ihren Gehalt an schädlichen Bestandteilen“ an.22 Böhmert resümierte deshalb, dass die epistemische Komplexität des Objekts „Wohnung“ von großen, gleichförmigen Untersuchungen im Rahmen von Volkszählungen nicht zu beherrschen war. Die „Hauptaufgabe“ der städtischen Wohnungsstatistik war für ihn daher nicht die „Aufstellung großer und vergleichbarer Zahlenmassen“, sondern die „Einzeluntersuchung für bestimmte praktische und lokale Zwecke“.23 Böhmert explizierte damit die Grundpfeiler einer methodischen Vorgehensweise, die Alain Desrosières unter dem Begriff der „enquête monographique“ gebündelt hat.24 Jenseits der Differenz von Mikro und Makro, Deskription und Enumeration oder Qualität und Quantität zeigte sich die Eigenheit der enquête monographique in ihrer Ablehnung statistischer Totalisierung und ihrer Präferenz für die Umstände einer Person, einer Gruppe, oder einer Situation; sie konnte numerische, deskriptive und visuelle Praktiken kombinieren.25
Das Plädoyer für „Einzeluntersuchungen“ war in der Wohnungsfrage keineswegs als epistemisches Desiderat zu verstehen. Böhmert rekurrierte auf ein weites Feld wohnungshygienischer Enquêten, die um 1900 von einer Vielzahl heterogener Akteur*innen durchgeführt wurden. Innerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs gehörten die seit wenigen Jahrzehnten bestehenden Ortskrankenkassen zu den wichtigsten Akteur*innen der Einzeluntersuchung. Seit 1901 nahmen sie in einer Vielzahl von Städten Wohnungsenquêten vor, mit deren Hilfe sie Ärzte über die Wohnungsverhältnisse ihrer Patienten unterrichteten, Druck auf die Kommunen ausübten sowie für eine reichsübergreifende Wohnungsgesetzgebung stritten.26 Finanziell stark beschränkt, beabsichtigten die Krankenkassen kein „umfassendes, vollständiges Gemälde von den eigenartigen Wohnungsverhältnissen ganzer Bevölkerungsklassen“27 anzufertigen, sondern für die lokalen Zwecke der Kassen notwendiges Material zu sammeln. Gerade angesichts angespannter Finanzen verfolgten die Krankenkassen mit ihrem Endziel einer umfassenden Wohnungsreform auch ein ökonomisches und paternalistisches Kalkül, das durch die Verringerung der Krankheitslast die Ausgaben senken sollte. Die dazugehörigen Enquêten sollten sich zwar der statistischen Methode bedienen, erschöpften sich jedoch nicht darin. In einem Leitfaden zur Durchführung von Wohnungsenquêten berief sich die Deutsche Krankenkassenzeitung auf den Nationalökonom Ludwig Sinzheimer, der 1902 eine Maßgabe für die ideale Wohnungsuntersuchung formuliert hatte.
Die besten Untersuchungen der Wohnungsverhältnisse sind Wohnungsenquêten im weiteren Sinne, d.h. Mischungen von statistischen Untersuchungen und Enquêten im engeren Sinne, die das durch die Statistik gelieferte Bild, soweit es nöthig ist, erklären, beleben und ergänzen sollen.28
Erklärende oder illustrierende Elemente sollten sich ergänzend an statistisches Zahlenmaterial anlagern, um den jeweils vorgefunden Bedingungen vor Ort gerecht zu werden. Im Anschluss an Sinzheimer lehnten die Krankenkassen einen wohnungsstatistischen Universalismus à la Pohle auf entschiedene Art und Weise ab.29 Die Untersuchungsform der Krankenkasse lässt sich so in Anlehnung an Ludwik Fleck vielleicht am besten mit dem Begriff des „Untersuchungsstils“ beschreiben: Für die Krankenkassen ging es darum, eine variable Form zu finden, die mit unterschiedlichen, aber gleichzeitig verknüpften Techniken die „charakteristischen Züge“ und „hauptsächlichen Merkmale“ des Wohnungselends ans Licht brachte.30 Anstelle probabilistischer Mortalitätskalküle traten Typologien, die eigentümliche Verschränkungen zwischen Wohnungen, Wohnungszuständen und Krankheitsbildern visualisieren sollten.
Die Berliner Wohnungsenquête als paradigmatische „Einzeluntersuchung“
Einer der wichtigsten Protagonisten, der sich für einen dergestalt wohnungshygienischen Lokalismus einsetzte, war der bereits erwähnte Krankenkassenbeamte Albert Kohn. Zwischen 1901 und 1920 führte er für die Ortskrankenkasse der Kaufleute in Berlin eine jährliche Wohnungsenquête durch, in der er penibel unterschiedlichste Daten über Krankheitsfälle und Wohnungszustände zusammentrug. Kohns Untersuchung ist vor allem wegen des reichen fotografischen Bildmaterials berühmt geworden, das er seiner Enquête beilegte. Aus dem Bereich der Krankenkassenenquêten ist die Berliner Enquête die Einzige, die in der Forschung bisher näher untersucht wurde.31 Nicht nur zitierte und interpretierte Kohn in den 20 Jahren seiner Enquête eine ungeheure Anzahl von Studien, die aus bautechnischer, demografischer und hygienischer Perspektive über die Wohnungsfrage angestellt worden waren. Seine Wohnungsuntersuchung wurde umgekehrt auch von namhaften Vertretern der Hygiene- und Tuberkuloseforschung als Beispiel einer vorbildhaften Fallstudie angeführt.32 Gerade diejenigen Punkte, die von der Forschung bisweilen als methodische Schwachpunkte der Untersuchung herangeführt wurden – die mangelnde Kohärenz, das exzessive Ausbuchstabieren von Einzelfällen, das Fehlen von Vergleichsgruppen – verdecken den eigentümlichen Untersuchungsstil der Kohn’schen Methodologie. Dieser liegt in zwei Punkten begründet.
Erstens suchte Kohn rhetorische und visuelle Mittel so zu kombinieren, dass unhygienische Wohnungszustände zu einer konsistenten Kette von Sichtweisen verknüpft werden konnten. Seine Enquête bestand aus einem fixen Arrangement von statistischen Tabellen, Zahlenbeschreibungen, Einzelfallberichten und Fotografien, das sich in beinahe jeder Nummer wiederholte. Im Verhältnis nahmen die Tabellen und deren verbale Aufschlüsselung den meisten Raum ein. Die Einzelberichte sollten „das durch die Tabellen gebotene Bild […] vervollständigen“, wenn der Krankenkassenkontrolleur auf „Missstände stoße, zu deren Beschreibung die Beantwortung der auf dem Erhebungsformular gestellten Fragen nicht ausreicht“.33 Auch die Fotografien sollten supplementären Charakter haben, „weil wir der Ansicht sind, dass dadurch mancherlei besser wiedergegeben werden kann, wie es uns mit der Feder möglich ist“.34 Während die Forschung und auch die zeitgenössische Rezeption die Fotografien als Antithesis der Statistik und besonders drastisches Darstellungsmittel wahrgenommen hat,35 scheint Kohn mit der Kombination von Zahlen, Berichten und Bildern eher auf eine möglichst adäquate Übersetzung der vorgefundenen „Zustände“ abgezielt zu haben. So führte er 1909 aus: „Diese Berichte, ebenso wie die beigegebenen Bilder, illustrieren nur die Zustände, wie sie sich aus unseren Tabellen zahlenmäßig ergeben“.36 Blickt man genauer in die Komposition der Enquête, bemerkt man, dass die Darstellungsmittel zwar unabhängig voneinander existierten, gleichzeitig aber so miteinander verknüpft wurden, dass sie ein komplementäres Gesamtbild der Wohnung ablieferten. Indem Kohn besonders drastische Zahlen wie etwa die Anzahl der Betten aus den Tabellen auch in seinen Berichten mit abbildete, sorgte er dafür, dass die Leser*innen durch eine sich stetig wiederholende Kette von Visualisierungen des Wohnungselends geleitet wurden.37
Die Kohn’sche Wohnungsuntersuchung brachte eine Typologie zutage, die auf eigentümliche Weise Wohnungen, Wohnungszuständen und Krankheitsbilder verschränkte. Der Krankenkassendirektor war davon überzeugt, dass eine Darstellung typische Pathologien des Berliner Wohnungselends enthüllen musste. Während die abstrakte Statistik ihre „langen Zahlenreihen und […] wuchtigen Tabellen […] aufmarschieren“38 ließ, wählte Kohn ein Verfahren, das zentrale Kennzahlen in Text und Bild übersetzte. Seine Kombination von Tabellen, Berichten und Fotografien integrierte numerische, deskriptive und visuelle Techniken und sollte gewährleisten, dass die Spezifität des Berliner Wohnungselends, etwa der geringe Luftraum, die inadäquate Anzahl von Betten oder das Schlafgängerwesen auf unterschiedliche, gleichwohl konsistente Weise sichtbar wurde. Die Anzahl der Personen pro Bett beispielsweise wurde nicht nur in den Tabellen sorgfältig zu einer Durchschnittszahl kondensiert, sondern auch in den Berichten und auf den Fotografien wiedergegeben; in den Berichten erhielt sie sogar eine eigene Rubrik.39 Die Untersuchung einer Wohnung war für Kohn nicht nur ein statistisches, sondern vor allem auch ein rhetorisches Projekt. Aus der Unzahl statistischer Daten wählte er einzelne signifikante Kennzahlen und visualisierte diese fallartig in Berichten und Fotografien.
Kohns Darstellung unhygienischer Wohnungen war zweitens experimentell angelegt und variierte von Jahr zu Jahr. Anders als in wohnungsstatistischen Arbeiten waren die Grundeinheit seiner Analyse nicht Wohnungen, sondern Patient*innen, für die ein jeweils eigener Fragebogen ausgefüllt wurde. Die Patient*innen setzte er durch den Fragebogen mit einer Vielzahl von Wohnungselementen in Korrelation, etwa dem zur Verfügung stehenden Luftraum, der Bodenfläche, den Heizgelegenheiten, der Fensteranzahl, den Toiletten oder den Betten. Während er anfangs etwa noch die Nähe zum nächsten Park integriert hatte,40 erfasste er später den Luftraum pro Person gestaffelt nach Erkrankungen und Berufsgruppe, die Erkrankungen nach Stockwerk41 oder die Anzahl von Personen, die sich in einer Wohnung ein Bett teilen mussten.42 Mithilfe von Verhältniszahlen wurden aus dem Datenbestand sorgfältig typische Extremata herausdestilliert und extrahiert. Nirgendwo werden diese sogenannten „üblen Missstände“ besser veranschaulicht als in der Relation zwischen Patient*innen und Betten. Für Kohn war die Frage, ob ein*e Patient*in in seiner Wohnung ein eigenes Bett zur Verfügung hatte oder nicht, stets „das deprimierendste und erschütterndste Kapitel unserer Arbeit.“43 Diese kleinteilige Analyse von Einzelfaktoren erlaubte es ihm, den Blick auf potenzielle Krankheitsrisiken zu öffnen, die in den gängigen wohnungsstatistischen Formularen unterbelichtet blieben. Die Integration und Desintegration einzelner Kennzahlen erreichten zwar nie systematischen Charakter, zeigte genau darin aber die Möglichkeiten auf, mit der die Phänomene Wohnung und Krankheit miteinander korreliert werden konnten. In der komplexen Kombinatorik setzte Kohn ein Merkmal der Sozialenquête als Forschungsmethode um, das der belgische Soziologe Ernest Mahaim bereits auf dem Internationalen Wohnungskongress von 1897 angepriesen hatte. Anstatt sich nur mit ausgewählten Mittelwerten wie der Belegungsquote zu begnügen, stelle die Enquête diese Werte „mit ihren Beziehungen zu den anderen Daten [leurs relations avec les autres données]“ dar. Es war „die Kombination einer großen Bandbreite von Elementen, die den Kern der Enquête ausmacht.“44
Variationen der Krankenkassenenquête
Die Wohnungsenquête Albert Kohns war nicht weniger als schulbildend für eine ganze Reihe von Enquêten, die sich an seine Arbeit anschlossen. Zu den ersten Imitatorinnen der Kohn’schen Enquête zählten die Ortskrankenkassen von Magdeburg und Straßburg im Elsass.45 Die Straßburger Enquête wurde jeweils in den Jahren 1901 und 1902 durchgeführt und, anders als die Berliner Wohnungsenquête, als unselbstständiger Beitrag in der Deutschen Krankenkassenzeitung veröffentlicht.46 Wo in Berlin als Grundeinheit Patient*innen erfasst wurden, waren es in Straßburg die Wohnungen selbst. Im Verhältnis zur Berliner Enquête fand die Aufnahme jedoch in wesentlich kleinerem Maßstab statt. Wo in Berlin jedes Jahr mehr als 10.000 Kranke besucht wurden, erfasste man in Straßburg 1902 nur 660 Wohnungen. Grundsätzlich orientierten sich die Straßburger Krankenkassenbeamt*innen an gängigen wohnungshygienischen Grenzwerten und lieferten etwa Tabellen für die Bodenfläche, die Raumhöhe und den Kubikinhalt. Ebenso erfassten sie die Anzahl der Fenster, die Beschaffenheit der Räume bezüglich Helligkeit, Dunkelheit und Feuchte, die Abortnutzung sowie die Art der Heizgelegenheit.
Da die Grundeinheit in Straßburg nicht Patient*innen, sondern Wohnungen waren, konnte eine stadtgeografische Typisierung vorgenommen werden. So unterschieden die Straßburger 1902 bereits zwischen Wohnungen in der Innenstadt und in den Vororten. Diese geografische Differenzierung wurde als besonders wertvoll erachtet, da „die bezüglichen Verhältnisse in der Stadt fast in jeder Beziehung verschieden […] mit denen der Vororte“47 seien. So zeige etwa die Lage der Wohnungen frappierende Unterschiede: „[W]ährend in der inneren Stadt circa 1/3 der Wohnungen auf Hinterhäuser entfallen und die größte Anzahl derselben sich im 1. und 2. Stockwerk befinden, kommen bei den Vororten nur circa 1/5 auf Hinterhäuser und die Mehrzahl auf Parterre, sowie Dachwohnungen.“48 Die Wohnverhältnisse waren in den Vororten trotzdem nur bedingt besser; zwar konnte ein größerer Luftraum und mehr Bodenfläche gemessen werden, bei der Anzahl der Fenster und der Beschaffenheit der Räume hinkten sie aber der Innenstadt hinterher. Insgesamt war die Straßburger Ortskrankenkasse von den Zahlen konsterniert. In einer Formulierung, die die Zahlen in den Bereich der Bildlichkeit transportierte und die direkt der Terminologie Kohns entlehnt war,49 resümierte die Krankenkasse: „Ein Bild sozialen Elends entrollt sich auch da wieder vor unseren Augen.“50
Während die Straßburger Enquête die Wohnung als epistemische Grundeinheit in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung stellte, stammt aus Breslau eine weitere Wohnungsenquête, die besonders stark publizistische Kleinformen integrierte. In der Erhebung der Breslauer Ortskrankenkassen unter Leitung von Arthur Bergmann fanden sich, als einziger neben der Berliner Krankenkassenenquête, eine Reihe von Wohnungsfotografien sowie eine Kopie des genutzten Fragebogens. Essays, statistische Tabellen und Einzelfallbeschreibungen ergänzten den Band. Bei genauerer Betrachtung entpuppte sich die Breslauer Enquête als Untersuchung, die einen ganz eigenwilligen Stil hervorbrachte. Zunächst setzte Bergmann die Fotografien ganz an den Anfang seiner Enquête, so dass die Leser*innen durch die Visualisierung des Breslauer Wohnungselends blättern mussten, bevor sie auf den eigentlichen Haupttext stießen. Anders als der nüchterne Abdruck Kohns, präsentierte Bergmann die Wohnungsbilder mit einer Rahmenverzierung, was einen verfremdenden Effekt hervorrief. Die ornamentalen Rahmen umrandeten die Fotografien wie Fensterläden und kontrastierten damit mit den Abbildungen kargen Wohnraums. Das Wohnungsbild eines Asthmatikers etwa, rahmte Bergmann mit kleineren Fleurons (Abb. 1), die dazugehörige Bildunterschrift zeichnete die Wohnung hingegen als paradigmatischen Raum der Armut.
Abb. 1 – Ornamentale Verzierung aus der Breslauer Wohnungsenquête
Arthur Bergmann, Denkschrift zur ersten Wohnung-Enquête der Orts-Krankenkassen in Breslau, Breslau, Verlag des Verbandes der Orts-, Betriebs- (Fabrik-) Krankenkassen in Breslau, 1906, S. 17.
Das florale Ornament stand in auffallendem Gegensatz zur Kargheit des Interieurs und könnte den Blick der Betrachter*innen auf die eigentlichen Wohnungszustände geschärft haben, ein Effekt der nicht zuletzt durch die „Blitzlichtaufnahmen“ verschärft wurde. Deutlicher noch als in der Berliner Untersuchung schien die Breslauer Wohnungsenquête einem dramaturgischen Skript zu folgen, das sorgfältig abwog, wie und wo die Leser*innen mit dem Medium der Fotografie konfrontiert wurden.
Für die darauffolgenden Seiten hatte Bergmann eine Reihe von kleineren thematischen Essays zur Breslauer Wohnungsfrage gewählt. Der erste Essay zur Existenz der Wohnungsnot nahm sich als massive Kritik des Breslauer zweiten Bürgermeisters Muehl aus, der in mehreren Gesprächen mit den Krankenkassen bestritten hatte, dass in Breslau eine Wohnungsnot existiere.51 Sarkastisch kommentierte Bergmann, dass die Krankenkassen trotz dieser „klugen und kundigen Belehrung“ ihre „alte Überzeugung nicht los werden [konnten], dass dennoch ein Wohnungselend in Breslau vorhanden sei, und zwar ein Elend, das sozusagen zum Himmel schreit.“52 Um den Magistrat zu einer energischeren Wohnungsgesetzgebung zu motivieren, glaubte Bergmann, die herrschenden Verhältnisse deutlicher vor Augen führen zu müssen, so dass auch die Stadtverordneten Gelegenheit hätten, „in die dumpfen, feuchten, schmutzigen und schandhaften Mauerlöcher zu blicken, in denen viele tausend Mitbürger jämmerlich vegetieren und an Leib und Seele verderben“.53 Wie so oft war die Wohnungsfrage damit nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein moralisches Übel; aus der Beschreibung schauerlicher Wohnungszustände beschwor Bergmann einen unmittelbaren Handlungsimperativ.54
Eine „auf praktische Änderung zielende Aufklärungswissenschaft“,55 ein Grundmerkmal der Krankenkassenenquêten, legte Bergmann auch seiner Polemik gegen die Breslauer Presse zugrunde. Da die „bisherigen Wohnungsfeststellungen“ der Ortskrankenkassen von den Zeitungen „nach Möglichkeit verschwiegen“ worden seien, hegte er den Verdacht, dass die Presse davor zurückschrecke „das satte, behäbige, moralfrohe Spiessertum aus beschaulicher Ruhe aufzurütteln.“56 Stärker noch als die Berliner Enquête integrierte Bergmann in seinen Untersuchungsstil publizistische Formen, die nicht mehr unbedingt „ohne jede Ausschmückung, frei von jeder Tendenz“57 Zustände schildern mussten. Vielmehr ging es für Bergmann darum, im Sinne eines „aufrüttelnden, mahnenden und vorwurfsschweren Artikel[s]“ an das Gewissen der Leser*innen aus einem bürgerlichen Milieu zu appellieren und „Alarm“ zu schlagen.58
Entsprechend spät flocht Bergmann dann das eigentliche Kernstück der Enquête, die statistischen Erhebungen der Krankenkassenkontrolleure, in seine Schrift ein. Bei den Erhebungskategorien hatte Bergmann das Formular der Berliner Ortskrankenkasse aus dem Jahr 1905 bis in die typografische Gestaltung hinein Wort für Wort kopiert.59 Anders als in Berlin wollten die Breslauer Ortskrankenkassen jedoch auch den ökonomischen Status erheben und fragten daher den Mietpreis ab. Darüber hinaus übernahm Bergmann aus der amtlichen Statistik die Überbelegungsziffern sowie die Anzahl der Wohnungen gestaffelt nach Zimmeranzahl. Bergmann schloss daraus, dass die „Überbevölkerung am verbreitetsten bei den Wohnungen mit 1 heizbaren Zimmer“60 war und dass [u]nvergleichlich viel schärfer […] ein Mangel von an kleinen mit 1 oder 2 heizbaren Zimmern in Erscheinung“61 trat. Wie auch Kohn vermeinte Bergmann aus diesen Zahlen schrille Hilfeschreie zu vernehmen: „Aus all diesen unendlichen Ziffern und Zusammenstellungen klingt es wie ein Schrei der Not. Die arbeitende Bevölkerung leidet, weil sie schlecht wohnt!“62 Die eigenen Tabellen, die einem fünf Jahre späteren Aufnahmezeitraum entstammten, reihte Bergmann mühelos an die amtliche Statistik; auch aus ihnen sprach das Leid eine deutliche Sprache, da „alljährlich Tausende von Personen einem langem Siechtum und qualvollen Tod“63 preisgegeben seien. Diese narrativen Elemente erwuchsen zu einer eigenen Stilform, die auf die direkte und moralisierende Ansprache bürgerlicher Leser*innen abzielte.
Der Vergleich unterschiedlicher Erhebungszeiträume und Grundgesamtheiten, der für einen statistisch geschulten Beobachter*innen nach einem waghalsigen Vorgehen klingen mag, stellte für Bergmann kein methodisches Dilemma dar. Für ihn ging es in der Darstellung wohnungshygienischen Zahlenmaterials weniger um epidemiologische Kausalitäten als das grundsätzliche Vor-Augen-Stellen des Wohnungselends. Das Wohnungselend sprach für Bergmann auf derart vielstimmige Weise aus den Erhebungen, dass es von den Stadtobersten unmöglich weiter in Abrede gestellt werden konnte. Die Krankenkassen hatten damit „ein riesiges Material zur Erkenntnis unserer Wohnungsmissstände“ zur Verfügung gestellt, das endlich „eine gründliche Wohnungs-Reform in die Wege leiten“64 sollte. Für Bergmann gab es deshalb keine bessere Möglichkeit, als seine Enquête durch ein Gedicht Karl Geroks abzuschließen, dass im Titel die beiden Hauptmaßgaben der Hygienebewegung zusammenfasste: „Luft und Licht“.65 Die Vermengung von ornamentalen, metaphorischen, numerischen und sogar poetischen Darstellungsweisen des Wohnungselends stellte das einzig passable Medium dar, mit der die Stadtgesellschaft endlich von der Notwendigkeit einer Wohnungsreform überzeugt werden konnte.
Schluss
Die Krankenkassen brachten idiosynkratische Untersuchungsstile hervor, die zwar kurzlebig waren, dabei aber Zusammenhänge ans Licht brachten, die in vornehmlich statistisch angelegten Wohnungsuntersuchungen unterbelichtet blieben. Als Akteurinnen, die weder den akademischen Konventionen der entstehenden Sozialwissenschaften noch den Normen der statistischen Ämter und Kommunalverwaltungen unterworfen waren, konnten die Ortskrankenkassen in ihren Enquêten experimentelle Verfahrensweisen erproben, die sich am besten als variable „Untersuchungsstile“ beschreiben lassen. Diese Untersuchungsstile unterschieden sich von Publikation zu Publikation und von Krankenkasse zu Krankenkasse. In der Berliner Enquête und der Breslauer Variation erlaubten sie etwa die Vermengung von Statistik und Einzeluntersuchung im Medium von Zahl, Bild und Fallbeschreibung. Im weiten Feld des öffentlichen Gesundheitswesens verstanden sich die Krankenkassen als Institutionen, die Wissen über Wohnungszustände erzeugten und dieses Wissen gleichzeitig unmittelbar für die Praxis nutzbar machten. Von der Berliner Ortskrankenkasse wissen wir etwa, dass diejenigen Kranken, die in besonders üblen Wohnungen aufgefunden wurden, in das nächstgelegene Krankenhaus verlegt und der Wohnungszustand den Lungenheilstätten mitgeteilt wurde.66 Ganz grundsätzlich verfolgten die Ortskrankenkassen mit ihren Untersuchungen ein Erkenntnisinteresse, das im besten Fall direkt ins Handeln übersetzt werden konnte. Die Wohnungsenquêten stehen damit beispielhaft für eine politische Epistemologie, die Wissensbestände schuf, die unmittelbare wohnungspolitische und versicherungswirtschaftliche Effekte erzeugen sollte. Am Beispiel der Breslauer Ortskrankenkasse wird dies besonders deutlich, denn hier vermischten sich die Stilkonventionen der monografischen Enquête mit denjenigen eines polemischen Journalismus, dem an möglichst viel Aufmerksamkeit gelegen war. Die Untersuchungen der Ortskrankenkassen zeichneten sich gegenüber den staatlichen bzw. kommunalen Wohnungsenquêten und Wohnungsstatistiken durch ihren Einfallsreichtum aus, der sich adaptiv an veränderte Umstände anpassen konnte und aktuelle politische Debatten im Format der Enquête mitverhandelte.