Die Statistik: Instrument der Befreiung oder Instrument der Macht?

  • Statistics: A Tool of Liberation or a Tool of Power?
  • La statistique, outil de libération ou outil de pouvoir ?

Gliederung

Anmerkungen des Autors

Dieser Text erschien zunächst auf Französisch als: Alain Desrosières, „La statistique, outil de libération ou outil de pouvoir ?“, Statactivisme. Comment lutter avec des nombres, Isabelle Bruno, Emmanuel Didier, Julien Prévieux (Hg.), Paris, La Découverte (Zones) [copyright], 2014, S. 51–66. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung der Übersetzung.

Text

Die Sozialkritik stützt sich oft auf statistische Argumente,2 mit dem Ziel, die Forderungen nach Gleichheit und Gerechtigkeit zum Ausdruck zu bringen und sichtbar zu machen. Mit dem Aufstieg neoliberaler Politiken wurde das Vertrauen in diese Art von Instrumenten in jüngster Zeit allerdings erschüttert. Sie bedienen sich in großem Umfang quantitativer „Indikatoren“, um soziale Akteure zu kontrollieren und sie mittels Methoden wie dem Benchmarking3 in Konkurrenz zueinander zu setzen. Ist die Statistik also ein Instrument der Befreiung oder ein Instrument der Macht? Diese Frage mag Kennern der optimistischen Epoche der 1950er bis 1970er Jahre, in denen die von der amtlichen Statistik bereitgestellten Informationen als eine der wesentlichen Komponenten einer demokratischen Gesellschaft betrachtet wurden, absurd erscheinen.4

Dieser Optimismus kann heute erneut hinterfragt werden, nicht nur weil neoliberale Managementpraktiken die Quantifizierung nutzen, sondern auch aufgrund der Beiträge, welche die historischen und soziologischen Forschungen zur Quantifizierung in den letzten drei Jahrzehnten erarbeitet haben. Zum Teil haben diese Arbeiten fälschlicherweise den Eindruck erweckt, statistische Argumente zu relativieren oder auch zu disqualifizieren, beispielsweise im Rahmen der von Ian Hacking scharfsinnig analysierten Flut an Werken über die „soziale Konstruktion von diesem oder jenem“.5 Die historische oder soziologische Betrachtung der statistischen Arbeit schien die Tragweite der Statistik abzuschwächen, da sie ihr eine Wirksamkeit absprach, die an eine Vorstellung von Objektivität und Wertfreiheit geknüpft war. Die häufigen Kontroversen um die Messung von Arbeitslosigkeit und Inflation haben das Misstrauen um die allzu oft als „unstrittig“ präsentierten Zahlen nur verstärkt. Und doch haben es diese Studien erlaubt, sich von statistischen Spezial- und Expertendiskursen zu distanzieren und Räume für eine öffentliche Debatte statistischer Fragen zu schaffen. Die regelmäßigen Arbeitstreffen, die von den Gewerkschaften der amtlichen Statistik veranstaltet werden, geben hierfür gute Beispiele.

Die Statistik als „Mittel der Schwäche“ in den Händen der Unterdrückten

Demokratie und Statistik ist die Vorstellung gemein, dass es möglich ist, die Staatsbürger zu vergleichen und zu kommensurieren (commensurer).6 Das aus der Französischen Revolution erwachsene Gleichheitsprinzip ist im 19. Jahrhundert zunächst eine Rechtsnorm: ein Mensch, eine Stimme. Aber Frauen sind davon ausgeschlossen, weil sie nicht kommensurabel sind. Die von Frédéric Le Play zu dieser Zeit durchgeführten Enquêten zu den Haushaltsbudgets und Lebensbedingungen betreffen nur die Arbeiterklasse. Es ist zu dieser Zeit noch unvorstellbar, die Bourgeoisie zu befragen und mit den Arbeitern zu vergleichen. Im 20. Jahrhundert dann wird die Forderung nach Gleichheit sozial; statistische Erhebungen vergleichen soziale Gruppen, Frauen und Männer. Die Ausweitung sozialer Rechte und der sozialen Sicherungssysteme ist geknüpft an die Ausweitung der möglichen Fragen, die zum Gegenstand statistischer Erhebungen werden können.

Der amerikanische Historiker Ted Porter hat diesen Rückgriff auf die statistische Argumentation untersucht und spricht in diesem Zusammenhang paradoxerweise von einem „Mittel der Schwäche“.7 Tatsächlich wird die Statistik oft als ein Machtinstrument dargestellt, indem, einer klassischen Argumentationslinie folgend, suggeriert wird, dass die herrschenden Klassen die statistische Produktion nach ihren Interessen ausrichten. Im Gegensatz dazu meint Porter, dass sich die Hegemonie der traditionellen Klassen oft auf das Unausgesprochene gründet, auf nicht hinterfragte Selbstverständlichkeiten, die als „natürlich“ erlebt werden. Beherrschte Gruppen machen sich das statistische Argument zunutze, um die alte Ordnung zu zerschlagen und Ungerechtigkeiten sichtbar zu machen. Genau besehen sind es allerdings oft (aber nicht immer) beherrschte Gruppen innerhalb der herrschenden Klasse, also einer Mittelschicht mit höherem Bildungsgrad und besseren Ressourcen, die mithilfe der Statistik Argumentationen aufzubauen imstande sind.

Der erste Schub im Aufbau staatlicher Statistikbehörden vollzieht sich in den Jahren 1830 bis 1860, angeregt durch Adolphe Quetelet. Diese Art der Statistik setzt sich einerseits aus Volkszählungen und andererseits aus der Zusammenfassung der Daten in den Melde- bzw. Standesamtsregistern (Geburten, Eheschließungen, Sterblichkeit, Erkrankungen, Selbstmorde) und aus der Justiz (Verbrechen und Delikte) zusammen. Quetelet interpretiert diese erste Statistik als Ausdruck des „mittleren Menschen“ (homme moyen) und der Regelmäßigkeit sozialer Phänomene wie etwa Verbrechen und Selbstmorde. Sie trägt zur Verbreitung der Vorstellung bei, dass sich Gesellschaften in globalen, makrosozialen Kategorien analysieren lassen, die vom individuellen Verhalten der Einzelnen weitestgehend unabhängig sind. Diese Idee lässt sich für eine konservative Perspektive (nichts lässt sich ändern) wie auch für einen kritischen Ansatz nutzen: Wenn das soziale Gefüge nicht vom guten Willen der Herrschenden abhängig ist, dann muss das gesamte System verändert werden. Genau so argumentierte Marx und später die Sozialisten: Es geht nicht darum, die Kapitalisten zu ändern, sondern den Kapitalismus an sich. Tatsächlich griffen Marx und Engels für ihre Kapitalismusanalyse und -kritik ausgiebig auf die Industriestatistiken ihrer Zeit zurück.

Der zweite große Entwicklungsschub in der Statistik erfolgt in Verbindung mit der großen wirtschaftlichen und sozialen Krise zwischen 1870 und 1890. In England stehen sich zu dieser Zeit zwei sehr unterschiedliche Interpretationen der Krise gegenüber. Die erste, biologisch begründete, stützt sich auf eine statistische Argumentation über die vermeintliche Vererbbarkeit von Fähigkeiten, um eine eugenische Politik zu propagieren.8 Die zweite, mehr soziologisch orientierte, beschreibt die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse, ausgehend von statistischen Erhebungen, welche in die Projekte der Sozialreformer und der britischen Sozialdemokratie einfließen (Beatrice und Sidney Webb, Lord Beveridge). In Deutschland organisieren die Gewerkschaften großangelegte Enquêten zu Löhnen und Beschäftigungsverhältnissen.9 In Frankreich wurde eine ältere Tradition von Erhebungen zu Haushaltsbudgets der Arbeiter vom konservativen katholischen Ingenieur Frédéric Le Play angestoßen. Sein Vorwurf an das kapitalistische Lohnsystem war, dass es die Arbeiter aus ihrem angestammten traditionellen und familiären Zusammenhalt herausgerissen habe. Obwohl diese Kritik aus einem konservativen und der Französischen Revolution feindlich gesinnten Milieu hervorging, löste sie dennoch eine Bewegung von Enquêten und Sozialreformen aus, deren Fortführung und Ausdruck das Musée Social in Paris ist.10

Am Anfang des 20. Jahrhunderts steht die Arbeit im Mittelpunkt der Statistik

Die Krise Ende des 19. Jahrhunderts bildet den Ausgangspunkt für eine Neuausrichtung der amtlichen Statistik hin zu Fragestellungen rund um Arbeit, Beschäftigung und Arbeitslosigkeit. In Frankreich wird 1891 ein Arbeitsamt (Office du travail, der Vorläufer des heutigen Arbeitsministeriums) geschaffen, in dem das ehemalige Amt für Statistik Frankreichs (Statistique générale de la France – SGF) aufgeht, auch unter Beteiligung von Aktivisten aus dem Arbeiter- und Gewerkschaftsmilieu wie Fernand Pelloutier. Dieser betont „den Nutzen der Statistik, die es den Arbeitern in der nachkapitalistischen Gesellschaft erlauben wird, nicht nur Bedürfnisse zu erfassen, sondern auch den Austausch der Produkte zu kontrollieren und zu organisieren“. Die Statistik wird oft als untrennbar vom Staat betrachtet (nicht zuletzt aufgrund der Etymologie des Wortes). Dennoch findet die Idee, dass eine bedeutende Rolle bei der Organisation einer nachkapitalistischen Gesellschaft spielen könnte, mehrfach in den Texten militant-libertärer Verfechter des Föderalismus (die dem Zentralstaat gegenüber grundsätzlich feindlich gesinnt sind) Erwähnung. Dies zeigt sich insbesondere in einer programmatischen Schrift der Anarchistischen Föderation (Fédération anarchiste), die 1934 veröffentlicht und seitdem mehrmals neu aufgelegt wurde.11 Hier wird deutlich, dass Statistik auf zwei sehr unterschiedliche Weisen in die Aktivitäten und Projekte sozialer Bewegung eingreifen kann: Auf der einen Seite liefert sie Argumente zur Bekämpfung der Ungerechtigkeit in der Gesellschaft, auf der anderen Seite wird sie als Instrument zur Organisation der Produktion und des Warentauschs in einer etwaigen nachkapitalistischen Gesellschaft gesehen,12 und bildet insofern eine Bedingung „sozialistischer Gouvernementalität“, wie sie Michel Foucault vorschwebte.

In den großen Industriestaaten betreffen die Reaktionen auf die Krise Ende des 19. Jahrhunderts insbesondere die Organisation und den Schutz des Arbeitsmarktes und es werden die ersten Grundsteine des zukünftigen Wohlfahrtsstaates gelegt: Renten für ältere Arbeiter, Arbeitslosenversicherung, Sozialversicherung. Die statistischen Büros werden um Fragen der Arbeit organisiert. 1920 wird in Genf die Internationale Arbeitsorganisation (ILO – International Labour Organization) gegründet, bei der die Gewerkschaften eine wichtige Rolle spielen. Es werden Enquêten zu den Familienbudgets der Arbeiter und zu den Preisen der von ihnen konsumierten Güter entwickelt. Diese Übertragung sozialer Verhältnisse in die Form der Statistik schafft eine Sprache, in der sich Forderungen ausdrücken und Verhandlungen führen lassen, die sich aus den Klassenkonflikten ergeben. Nach 1945 wurde sie zum Symbol „befriedeter“ sozialer Beziehungen stilisiert, die nun auf Vernunft und auf geteilten, statistikgestützten Feststellungen (constats partagés) und nicht mehr auf Affekten und Gewalt beruhen sollten.

Die erfolgreiche Verwendung des statistischen Arguments hängt allerdings stark von der Legitimität der Institutionen ab, welche die Daten zur Verfügung stellen, auf die sie sich stützen. Entweder werden sie als „unanfechtbar“ erachtet und es existiert ein Konsens hinsichtlich der Bedingungen für Auseinandersetzungen, beispielsweise im Fall von geforderten Lohnerhöhungen zum Inflationsausgleich. Oder das Instrument an sich wird hinterfragt, beispielsweise im Hinblick auf die Gewichtung der Konsumgüter, deren Preissteigerungen mithilfe von entsprechenden Indizes überwacht werden, oder auch bezüglich der Art und Weise, wie Qualitätsänderungen bei diesen Waren einbezogen werden. An diesen Beispielen zeigt sich, um die von Luc Boltanski formulierte Dichotomie aufzugreifen,13 dass Kritik „reformistisch“ sein kann, wenn sie sich auf „unanfechtbare Zahlen“ stützt; oder umgekehrt, mehr oder weniger „radikal“, wenn sie die Berechnungsmodi des statistischen Instruments in Frage stellt, oder, erst recht, wenn sie die Statistik als Ausdruck von den Klassenverhältnissen als solche ablehnt. Eine Soziologie der kritischen Verwendung von Statistiken muss die gesamte Bandbreite einbeziehen – vom Rückgriff auf solche Argumente bis hin zu deren Ablehnung, ebenso wie das Spiel der Akteure mit dem statistischen Argument in der jeweiligen Situation.14

Damit eine Statistik ihre Rolle als vorgeblich neutrale, über den Konfliktparteien und den sozialen Gruppen stehende Referenz spielen kann, muss sie von demokratischen Prozessen angestoßen und garantiert werden, die ihrerseits legitim sind. Sie trägt dann dazu bei, die Realität zu schaffen und sie nicht einfach, wie es oft heißt, „abzubilden“. Diese Vorstellung ist nicht relativistisch in dem Sinne, dass sie die Existenz der Inflation oder der Arbeitslosigkeit leugnet. Aber sie richtet die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass Inflation und Arbeitslosigkeit auf verschiedene Arten gedacht, ausgedrückt, definiert und quantifiziert werden können und dass es sich bei diesen Unterschieden nicht einfach nur um technische Details handelt, sondern dass sie immer auch eine historische, politische und soziologische Bedeutung haben. Die innovativen Momente ergeben sich dann, wenn die sozialen Akteure den Rückgriff auf die alte Formgebung kritisieren und eine neue vorschlagen, durch die sie Zweifel und Kontroversen hervorrufen. Der Erfolg derartiger Unterfangen ist jedoch keinesfalls gesichert. Er hängt nicht nur von der intrinsischen Berechtigung der Kritik ab, sondern auch von der Kraft der sozialen Netzwerke, die sie stützen oder eben nicht.

Im Folgenden werden fünf Fälle untersucht, in denen solche Debatten stattfanden: Inflation, Arbeitslosigkeit, Armut, Bruttoinlandsprodukt und Ökologie. In jedem einzelnen Fall wurden die Quantifizierung und ihre Durchführung von kritischen Bewegungen, die die sozialen Verhältnisse neu denken, angestoßen, diskutiert und infrage gestellt. Auch wenn die angeregten Innovationen Debatten und Überlegungen mit sich brachten, da sie die Selbstverständlichkeit etablierter statistischer Indikatoren hinterfragten, so kam es doch nur selten vor, dass diese Alternativvorschläge eine mit den offiziellen Indikatoren vergleichbare Sichtbarkeit erreichten. Es werden dennoch zwei Fälle herangezogen, in denen Innovationen von sehr unterschiedlicher, wenn nicht sogar gegensätzlicher politischer Bedeutung eine beträchtliche Wirkung erzielten: der explosionsartige Anstieg der Einkommensungleichheit und der mediale Erfolg der Hochschulrankings.

Die immer wieder aufflammende Kritik am Verbraucherpreisindex

Der Verbraucherpreisindex ist eine der am häufigsten von diesen Kontroversen betroffenen Statistiken. Ihr Prinzip besteht darin, die Entwicklung der Preise für bestimmte Waren und Dienstleistungen über einen Zeitraum nachzuverfolgen und dann aus diesen Entwicklungen einen „gewichteten Durchschnitt“ zu bilden. Dieser Durchschnitt kann als Orientierung für die Festsetzung von Löhnen dienen, oder wenigstens ein Argument für Erwerbstätige bereitstellen, um sich vor der Inflation zu schützen. Aber wie werden eigentlich die zu beobachtenden Konsumgüter ausgewählt? Wer konsumiert sie? Arbeiter, arme Klassen, alle Lohnarbeitenden, die gesamte Bevölkerung? Wie soll der Durchschnitt berechnet werden? Mit welcher Gewichtung (Wägungsschema)? Sind die beobachteten Güter über die Zeit hinweg wirklich miteinander identisch und vergleichbar? All diese Fragen tauchen im Zuge fachlicher und politischer Debatten auf.

Erstes Beispiel: Bis in die 1950er Jahre wurde der Inhalt des beobachteten „Warenkorbs“ zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgebern ausgehandelt. Erstere argumentierten auf der Grundlage von „Bedürfnissen“, also einer Liste von Gütern und deren Quantität für den Grundbedarf, die ihnen zufolge für die Reproduktion der Arbeitskraft eines Arbeiters und seiner Familie unabdingbar waren. Dieser Index wurde normativ genannt, weil er Wertentscheidungen zu implizieren schien: Sollten Tabak und Alkohol zugelassen werden? Diese ersten Kontroversen wurden teilweise überwunden, als die amtliche Statistik in der Lage war, „Budgeterhebungen“ zu erstellen, die den tatsächlichen Konsum entweder der Arbeiter und Angestellten oder der gesamten Bevölkerung zum Gegenstand hatten. Diesen Index nannte man deskriptiv. Nun blieb allerdings die Frage offen, von welcher Bevölkerung die Rede war? Lange wurde nur ein Index für die Arbeiter und Angestellten veröffentlicht. In den 1980er Jahren verschwand dieser „Klassencharakter“ des Index teilweise; bevor er seit den 2000er Jahren wieder klar und deutlich hervortritt. Zu diesem Zeitpunkt stand der Index auch erneut in der Kritik und es wurde ihm, insbesondere seit der Einführung des Euro, vorgeworfen, die „Realität nicht mehr abzubilden“. Im Zuge dessen wurden erneut unterschiedliche Indizes für die verschiedenen sozioökonomischen Kategorien vorgeschlagen.

Der Konsens der 1950er Jahre in Bezug auf die Methodik eines beschreibenden Index war allerdings nicht vollständig: Die Gewerkschaft CGT (Confédération générale du travail) veröffentlichte lange Zeit, mindestens bis zum Abklingen der hohen Inflation in den 1980er Jahren, einen alternativen Index, da zu diesem Zeitpunkt das Problem der Arbeitslosigkeit am dringlichsten geworden war. Die Frage eines normativen Index verschwand im Übrigen nicht ganz, denn um 1990 legte die Bekämpfung des Tabakkonsums, die einen starken Anstieg der Zigarettenpreise vorsah, nahe, Tabak aus dem Preisindex zu entfernen, um einen Inflationseffekt zu vermeiden. Angesichts der Proteste wurde vorsichtshalber entschieden, zwei Indizes, einen mit und einen ohne Tabak, zu veröffentlichen. Den „Tarifpartnern“ wurde es überlassen, damit zurechtzukommen.

Eine weitere Kritik, die seit den 1970er Jahren von den Gewerkschaften angeführt wurde, war der „Qualitätseffekt“. Ein Treiber der Wettbewerbsdynamik im Kapitalismus ist die Schaffung neuer Produkte, die (tatsächlich oder scheinbar) „wirklich“ neue Leistungen bieten und deren Preise sich natürlich von denen vorheriger Produkte unterscheiden. In einigen Fällen führt dies dazu, dass letztere schlicht und einfach verschwinden. Das unterläuft das Prinzip des Index, der identische Produkte über die Zeit hinweg verfolgt. Auf einer grundlegenderen Ebene stellt sich hier das Problem der „Bedürfnisse“. Wer entscheidet über sie? Die ökologische Bewegung, der es um das Überleben des Planeten geht, stellt diese Fragen auf radikal neue Weise, indem sie das Versiegen der Ressourcen und die Treibhausgasemissionen gegeneinander abwägt. Diese neue Welle der Kritik bringt einen völlig neuen Typ von Statistiken hervor.

Arbeitslosigkeit und Armut: die schwierige Veränderung etablierter Sichtweisen

Seit dem Ende der 1970er Jahre wird die Arbeitslosigkeit zu einem schwerwiegenden Problem. In Frankreich beruht ihre Quantifizierung seit langer Zeit auf zwei unterschiedlichen Quellen. Eine auf Umfragen beruhende Studie zur Beschäftigung wendet die Definition der ILO an, die drei „Bedingungen“ einschließt: Erwerbslos ist eine nicht erwerbstätige Person, die aktiv nach einer Tätigkeit sucht und sofort verfügbar ist. Je nach Epoche findet die Befragung jährlich, dann quartalsweise statt. Die andere, auf monatlichen Erhebungen basierende Quelle ist die Anzahl der beim Arbeitsamt (ANPE – Agence nationale pour l’emploi) – seit 2008 Pôle Emploi – gemeldeten Personen. Die Arbeitslosenstatistik wird von der Politik, der Wirtschaft, den sozialen Akteuren und den Medien genauestens verfolgt und mit Ungeduld erwartet. Auch wenn die „Qualität“ der Daten der ANPE (später Pôle Emploi) zu wünschen übrig lässt, hat sie aufgrund des monatlichen Rhythmus einen entscheidenden Vorteil. Eine der Herausforderungen für die regelmäßigen Kontroversen um die Arbeitslosenstatistik – deren Verlauf hier nicht detailliert ausgeführt werden soll – besteht darin, diese beiden Quellen so miteinander zu kombinieren, dass es möglich ist, sowohl von der Qualität und der Aussagekraft der einen als auch vom Monatsrhythmus der anderen zu profitieren.

Der Begriff der Arbeitslosigkeit und seine Quantifizierung sind derart konventionell, dass beide Quellen zahlreiche Angriffspunkte für Kritik bieten – was natürlich nicht heißt, dass die Arbeitslosigkeit nicht existiert. Dies gilt auch für die drei Bedingungen der ILO: 1) Was ist mit Teilzeitbeschäftigungen mit einer sehr geringen Stundenzahl (eine Stunde pro Woche)? 2) Gilt schon die Anmeldung bei der ANPE/Pôle Emploi als „Aktivität“? (das ist umstritten) 3) Ist eine Person, die krank ist oder ein Praktikum macht, verfügbar? (das steht zur Debatte). Auch sind für die Daten der ANPE/Pôle Emploi mindestens acht Kategorien für Voll- und Teilarbeitslose hinterlegt – aber es lässt sich darüber streiten, welche einzubeziehen sind? Die Methode zur Berechnung der „offiziellen Zahlen“, die monatlich in den Medien veröffentlicht werden, wird von den Gewerkschaften heftig kritisiert. Die relative Dehnbarkeit der Definition von Arbeitslosigkeit nährt den latenten Verdacht der Manipulationen durch die Regierung.

Für unser Anliegen wesentlich ist, dass ein Kollektiv aus Forschenden und Aktivisten während einer besonders heftigen Kontroverse im Frühjahr 2007 versuchte, aus diesem Schema auszubrechen und den Vorschlag machte, die Quellen auf eine neue Art zu nutzen. Die Gruppe kämpft dafür, „andere Arbeitslosenzahlen“ in den Vordergrund zu stellen (daher ihr Name: ACDC – Autres chiffres du chômage, auf Deutsch „Andere Zahlen der Arbeitslosigkeit“). Auf ihrer Website stellt sie sich folgendermaßen vor:

Es ist sinnlos, über die derzeitigen Debatten hinaus nach einer ‚tatsächlichen Arbeitslosenzahl’ zu suchen, denn es existiert eine Vielfalt unterschiedlicher Situationen der Arbeitslosigkeit, der Unterbeschäftigung und der Prekarität. Es wäre daher zentral, diese mittels einer kleinen Anzahl relevanter Indikatoren zu beleuchten. Unter diesem Gesichtspunkt stellen wir hier für den französischen Fall die erste Schätzung über die Anzahl der Arbeitnehmer vor, die im Sinne der ILO arbeitslos oder unangemessen beschäftigt sind.15

Somit lehnt die ACDC den Begriff der „tatsächlichen Arbeitslosenzahlen“ ab und schlägt vor, breiter angelegte Aggregatdaten zu quantifizieren. Eine kühne Idee, die jedoch angesichts des Diskussionsstands, in den sie intervenierte, zu gewagt ist. Der Begriff der Arbeitslosigkeit bildet, zusammen mit der Institutionalisierung der Lohnarbeit im Verlauf des 20. Jahrhunderts, mindestens seit den 1930er Jahren einen festen Bestandteil der gesellschaftlichen Debatte.16 Die Forderung der ACDC läuft darauf hinaus, der sich seit den 1980er Jahren beschleunigten Deinstitutionalisierung der Lohnarbeit Rechnung zu tragen und daraus Konsequenzen in Gestalt eines anderen statistischen Indikators zu ziehen. Um dieses ambitionierte Unterfangen zum Erfolg zu führen, hätte die ACDC über ein bedeutend größeres Netzwerk an Verbündeten in Wissenschaft, Politik und den Verwaltungsbehörden verfügen müssen. Denn bei dem vom Kollektiv vorgeschlagenen Umbruch handelt es sich um etwas völlig anderes als das rituelle Anprangern der billigen Manipulationen, denen die Politiker sich widmen.

Die Quantifizierung der Armut hat die gleichen Diskussionen und alternativen Vorschläge aufgeworfen. In den EU-Staaten wird die sogenannte relative Armut klassischerweise am Anteil der Haushalte gemessen, deren Einkommen weniger als die Hälfte des Medianeinkommens beträgt. In vielen anderen Ländern wird die sogenannte „absolute“ Armut über eine monetäre Einkommensgrenze festgelegt (z. B. ein Dollar pro Tag). Ohne erneut im Einzelnen auf die Debatten hinsichtlich der sehr unterschiedlichen Bedeutung dieser beiden Modi der Messung einzugehen, stellen zahlreiche Kritiker fest, dass diese Indizes viel zu kurz greifen, um die Komplexität von Armut sichtbar zu machen. In Frankreich werden diese Fragen insbesondere im Nationalrat für statistische Informationen CNIS (Conseil national de l’information statistique) diskutiert, einem paritätischen Beratungsgremium, in dem das Arbeitsprogramm der Statistikbehörden vorgestellt und besprochen wird.

Auf Ersuchen von Aktivisten, von denen einige Mitglieder im Warn- und Informationsnetz für Ungleichheit RAI (Réseau d’alerte contre les inégalités) sind,17 stellte der CNIS dazu von 2004 bis 2007 verschiedene Überlegungen an. Das RAI hatte 2002 einen jährlich berechneten Indikator vorgeschlagen, das „Ungleichheits- und Armutsbarometer“ (Baromètre des inégalités et de la pauvreté) oder BIP40, eine Zusammenfassung von 58 statistischen Datenreihen zu den sechs Dimensionen von Ungleichheit und Armut: Arbeit, Einkommen, Wohnen, Bildung, Gesundheit und Justiz. Dieser Indikator erlitt aus den gleichen Gründen dasselbe Schicksal wie die Vorschläge des ACDC: Trotz der umfassenden Arbeit, die zu seiner Bildung und Verbreitung geleistet wurde, haben Politik und Medien nur wenig davon Gebrauch gemacht; seit 2005 scheint er nicht mehr veröffentlicht worden zu sein.

Diese beiden Teilniederlagen sind trotzdem auch Teilerfolge, denn sie haben zahlreiche aufschlussreiche Diskussionen angestoßen. Nachdem sie von Aktivisten in aufwendiger, freiwilliger Arbeit konzipiert wurden, sind sie nicht zum Tragen gekommen, weil keine Forschungs- oder Verwaltungsinstitution die Aufgabe übernommen hat, regelmäßig neue Indikatoren zu erstellen.18 Im Gegenzug zeigen diese Erfahrungen, wie stark amtliche Statistiken zur Konstruktion der Wirklichkeit beitragen. Insofern können sie mit Verfassungen verglichen werden. Sie sind das Produkt einer Arbeit der Gesellschaft an sich selbst und verkörpern den Zustand der sozialen Verhältnisse einer bestimmten Epoche. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Statistiken schlicht und einfach eine Meinungsäußerung der Herrschenden sind (wie früher oft behauptet wurde), sondern dass sie vielmehr einer historischen Konfiguration dieser Verhältnisse Form geben, indem sie sie reduzieren, vereinfachen und stilisieren, und zwar mittels langer und komplizierter Aushandlungsprozesse, deren Format nur unter großen Schwierigkeiten aufzulösen oder umzugestalten ist. Das zeigt sich an Vorhaben wie dem des ACDC oder dem BIP40, aber auch, wie noch zu sehen sein wird, an der Kritik, welche Umweltschützer am Bruttoinlandsprodukt (BIP) üben, sowie an Alternativvorschlägen dazu, wie man die gesellschaftliche Situation im Hinblick auf Wirtschaft, Soziales und Umwelt mittels „neuer Wohlstandsindikatoren“ anders quantifizieren kann.

Alternativvorschläge: Versuche und Erfolge

Was sind die Erfolgsfaktoren für eine Innovation in der Statistik? Eine rein methodische Neugestaltung wird nicht ausreichen. Sie muss notwendigerweise mit neuen Formen einhergehen, soziale Verhältnisse zu denken und zu organisieren, zu deren Realisierung sie umgekehrt ihren Beitrag leisten kann. Notwendig ist aber auch, dass ein Netz von Innovatoren genug Verbündete für ihre Verbreitung findet. Die erste Lesart lässt sich eher der Makrogeschichte zuordnen, die zweite eher der Mikrosoziologie, was sich gegenseitig nicht ausschließt. Dazu lassen sich vier sehr gegensätzliche Beispiele mit überaus unterschiedlichen sozialen und politischen Auswirkungen untersuchen: die Veröffentlichung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung im Frankreich der 1950er und 1960er Jahre, die Ansätze einer Kritik des BIP in den Nullerjahren, das Monitoring der relativen Entwicklung des reichsten Prozents der Haushalte und das Shanghai-Ranking für Hochschulen.

Das BIP wurde in den 1950er Jahren als Teil einer umfassenden und komplexen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung konzipiert, die darauf abzielte, konkrete Werkzeuge für keynesianische makroökonomische Politik bereitzustellen. Seine Entstehungsgeschichte ist in drei einander ergänzenden Studien, die die beiden Dimensionen der Makrogeschichte und der Mikrosoziologie mustergültig darstellen, gut dokumentiert. François Fourquet schreibt eine Art historischen Roman über das Modernisierungsprojekt der Nachkriegszeit, in dessen Mittelpunkt Interviews mit den Hauptbeteiligten stehen.19 Aude Terray beschreibt den institutionellen Kontext dieser Neugestaltung.20 André Vanoli, der sie federführend mitgestaltet hat, legt eine detaillierte Analyse ihres Entstehungsprozesses und fachlichen Inhalts vor.21 Ihr Begründer Claude Gruson leitet von 1961 bis 1967 das Nationalinstitut für Statistik und ökonomische Studien INSEE (Institut national de la statistique et des études économiques). Ab den 1960er Jahren bildet die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung den organisatorischen Rahmen für den größten Teil des französischen Statistiksystems. Dieser Erfolg rührt daher, dass sie mit der Art und Weise, wie die Wirtschaft zu jener Zeit gesteuert wurde, im Einklang stand. Konzipiert zu dem Zeitpunkt, als nach dem Krieg der Marshallplan zum Wiederaufbau Frankreichs beitrug, lieferte sie die Begrifflichkeiten sowohl für die von Jean Monnet konzipierte indikative Planung als auch für die Steuerung des in keynesianischen Termini gedachten makroökonomischen Gleichgewichts. Die drei zitierten Bücher stellen die einander ergänzenden Aspekte dieser Success Story dar, insbesondere das kleine Netzwerk aus Persönlichkeiten um Jean Monnet, Pierre Massé, Claude Gruson und André Vanoli, die sie ins Leben gerufen haben.

Ab Mitte der 1970er Jahre geriet diese relative Harmonie in eine Krise. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Wachstum verlangsamt, gleichzeitig kam es zu einem Anstieg von Inflation und Arbeitslosigkeit, den die früheren Modelle nicht vorausgesehen hatten. Die keynesianische Theorie wurde durch die neue Theorie der sogenannten „rationalen Erwartungen“ disqualifiziert. Letztere besagte insbesondere, dass alle Anstrengungen, den Verlauf des makroökonomischen Gleichgewichts durch staatliche Maßnahmen zu beeinflussen, zum Scheitern verurteilt sind, insofern die mikroökonomischen Akteure deren Effekte antizipieren und Entscheidungen treffen, die deren Auswirkungen aufheben. Diese theoretische Innovation untermauerte die Wende zu neoliberalen Politiken, die seit den 1980er Jahren dominieren.22 Infolgedessen verlor die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung als Instrument ihren früheren Glanz. Sie übernahm allerdings eine neue Rolle, da das BIP seit den 1980er Jahren dafür genutzt wird, die Höhe der Beiträge der Mitgliedstaaten zum EU-Haushalt festzulegen, und später als Grundlage für die Berechnung der Quotienten dient, die 1992 als Konvergenzkriterien („Maastricht-Kriterien“) festgelegt wurden. Das führte zu einem tiefgreifenden Wandel der Natur dieser Aggregatdaten. Sie hörten auf, Teil eines komplexen, um die „keynesianische Gleichung“ vom globalen makroökonomischen Gleichgewicht herum konstruierten Ensembles zu sein.

In den Nullerjahren ändert sich der Status des BIP erneut. Im Rahmen der Debatten über die Gefahren des Produktivismus, über die unbedingt erforderliche Energiewende und den Klimawandel, die durch Umweltschutzorganisationen angestoßen wurden, ist es zu einem „Reichtumsindikator“ geworden, allerdings herausgelöst aus seinem ursprünglichen Kontext, dem kohärenten und ausbalancierten wirtschaftlichen Gesamtbild des TEE (Tableau économique équilibré) innerhalb der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Der Anspruch an das BIP ist nun, den sozialen und ökologischen Zustand eines Landes auszudrücken. Die Kritik richtet sich genau auf diesen neuen Status und diese neue Rolle.23 In der Schlussbemerkung ihres Buches zu den neuen Reichtumsindikatoren ziehen Jean Gadrey und Florence Jany-Catrice24 ausdrücklich eine Parallele zwischen der heutigen Zeit und den 1950er Jahren, den Erfolgsjahren von Grusons Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung. Sie fordern eine ähnlich signifikante Neugestaltung des wirtschaftlichen Informationssystems, die von einer umfassenden ökologischen Wende in der Größenordnung der von den Planern in der Nachkriegszeit vollzogenen Modernisierung vorangetrieben wird. Dieser Vergleich ist interessant, weil er die Frage nach dem Netzwerk der unterschiedlichen Allianzen aufwirft, die ein solches Vorhaben plausibel machen könnten. Auch wenn man es als hoch relevant einschätzt, so legt der Vergleich doch nahe, dass dieses mögliche Vorhaben noch weit von der Einstimmigkeit entfernt ist, die in den 1950er Jahren herrschte (nicht zuletzt wegen der 2008 ausgelösten Krise). Diese etwas grobe Parallele zwischen zwei überaus unterschiedlichen Epochen zeigt, dass der Erfolg einer in der Sprache der Statistik ausgedrückten Sozialkritik nicht allein auf der Richtigkeit ihrer Argumente beruhen kann, sondern zu einem Großteil vom politischen und sozialen Netzwerk abhängt, in das sie sich einschreibt.

Demgegenüber lassen sich zwei sowohl in ihrer Reichweite als auch ihrer Natur nach sehr unterschiedliche Innovationen anführen, die in den Nullerjahren erhebliche Auswirkungen hatten. Die eine ist die rasante Verbreitung von Verweisen auf das Hochschulranking ausgehend von jenem der Universität Shanghai im Jahre 2003. Die allgemeine Verbreitung von auf das Benchmarking gestützten Managementmethoden, d. h. eines permanenten Wettbewerbs auf der Basis quantifizierter Indikatoren, hat die Hochschulpraxis grundlegend verändert und auf ein einziges Ziel ausgerichtet: den Aufstieg im Shanghai-Ranking.25 Eine soziologische Analyse dieses raschen Wandels würde zwei Teile beinhalten. Der erste wäre mikrosoziologisch und würde die von China ausgehende Entwicklung dieser Innovation nachzeichnen, ihre Akteure, die Mittel ihrer Verbreitung und ihre Übersetzungen von einem Kontinent auf die anderen. Der andere, eher makrosoziologische Teil, würde diese Innovation vor dem Hintergrund der neoliberalen Wende analysieren, die sich im sogenannten „Konsens von Washington“ ausdrückte, und die auf Freihandel und globalem Wettbewerb fußt.

Die andere Innovation, der ein spektakulärer Erfolg beschieden war, kann auch als Schattenseite der neoliberalen Globalisierung gelesen werden: die explodierenden Ungleichheiten, die von der schwindelerregenden Bereicherung des reichsten Teils der herrschenden Klassen begleitet wird. Die von Thomas Piketty und einigen US-amerikanischen Forschern gleichzeitig entwickelte Idee ist so einfach wie originell. Anstatt die Einkommensverteilung wie früher in Dezilen (Stufen von jeweils 10%) zu beschreiben, „zoomen“ sie in das reichste Hundertstel (1%) bzw. sogar in das reichste Tausendstel (1 von 1.000) und Zehntausendstel (1 von 10.000). So machen sie sichtbar, dass ein überaus kleiner Teil der Bevölkerung alle Gewinne der wirtschaftlichen Globalisierung monopolisiert und sich so vom Rest der Welt komplett entkoppelt hat. Dies schlug sich im Slogan der „Empörten“ der Occupy Wall Street-Bewegung nieder: „Wir sind die 99%“.26 Aus einer mikrosoziologischen Perspektive lässt sich die Kontinuität zwischen den Arbeiten der Gruppe um Piketty und diesem New Yorker Slogan nachverfolgen.27 Der Erfolg dieser scheinbar einfachen Innovation steht stellvertretend für die immer explosiveren Spannungen, die die Globalisierung hervorruft.

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Sujobert Bernard, „La société peut-elle intervenir sur le programme de la statistique publique ? Le CNIS en tant que lieu et outil d’élaboration et de confrontation des attentes sociales et des projets de la statistique publique“, Beitrag im EHESS-Seminar „Politique des statistiques“, 6. März 2012.

Terray Aude, Des francs-tireurs aux experts. L’organisation de la prévision économique au ministère des Finances, 1948-1968, Paris, Comité pour l’histoire économique et financière de la France, 2002.

Vanoli André, Une histoire de la comptabilité nationale, Paris, La Découverte, 2002.

Anmerkungen

1 Dieser Text findet sich zudem in Alain Desrosières, Prouver et gouverner. Une analyse politique des statistiques publiques, Paris, La Découverte, 2014.

2 [Anm. d. Übers.: Unter dem Titel „L’Argument statistique“ erschienen 2008 (noch zu Lebzeiten des Autors) wichtige Aufsätze und Vorträge in gesammelter Form. Darin entfaltet Alain Desrosières ein historisch-soziologisches Programm zur Erforschung von Statistiken als Argumentationselemente in politischen und sozialen Dispositiven. Vgl. Alain Desrosières, L’argument statistique I. Pour une sociologie historique de la quantification, Paris, Presses des Mines, 2008; Alain Desrosières, L’argument statistique II. Gouverner par les nombres, Paris, Presses des Mines, 2008.]

3 Isabelle Bruno, À vos marques, prêts… cherchez ! La stratégie européenne de Lisbonne, vers un marché de la recherche, Bellecombe-en-Bauges, Éditions du Croquant, 2008.

4 [Anm. d. Übers.: Hier verweist Alain Desrosières auf den französischen Kontext. Im deutschen Kontext hingegen gab es in den 1980er Jahren Bewegungen, die gegen die Volkszählung als Instrument staatlicher Kontrolle und potenzielle Gefahr für individuelle Rechte protestierten. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1983, das das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ als Grundrecht definierte, wurde die Durchführung der Volkszählung um vier Jahre verschoben.]

5 Ian Hacking, Was heißt ‚soziale Konstruktion’? Zur Konstruktion eine Kampfvokabel in den Wissenschaften, Frankfurt am Main, Fischer, 1999.

6 [Anm. d. Übers.: Eine Grundunterscheidung der historischen Soziologie der Quantifizierung, wie sie Desrosières vorschlägt, ist die klare Abgrenzung der Begriffe der Quantifizierung und der Messung. „Quantifizieren“ muss in diesem Sinne als eine „aktive“ Tätigkeit des „Zahlenmachens“ verstanden werden, die ihrerseits eine komplexe „Serie von Äquivalenzvereinbarungen“ (conventions d’équivalence) voraussetzt. Das heißt „Vergleiche, Verhandlungen, Kompromisse, Übersetzungen, Einschreibungen, Codierungen, kodifizierte und replizierbare Verfahren und Berechnungen, die zu einer Zahlengebung hinführen“ (Alain Desrosières, „La statistique, outil de gouvernement et outil de preuve“, L’argument statistique I. Pour une sociologie historique de la quantification, Paris, Presses des Mines, S. 10 f.). Die Messung im landläufigen Sinne wird erst am Ende dieser Herstellung der Äquivalenz möglich. Die Bestimmung der Quantifizierung durch die zwei konstitutiven Momente des „Übereinkommens und Messens“ (ebd., S. 11) macht sie als historischen Gegenstand sui generis untersuchbar. Der Begriff des „Kommensurierens“ verweist auf diese komplexen Vorbedingungen und Anstrengungen, die aufgebracht und aufrechterhalten werden müssen, um zwei oder mehr diskrete Gegenstände miteinander vergleichbar zu machen. Referenzpunkte für Desrosières bilden u. a. Bruno Latours Ansatz der „irreductions” und der „trials of weakness“ (Bruno Latour, The Pasteurization of France, Cambridge, MA, Harvard University Press, 1988, S. 153–236) und die „économie des conventions“ (vgl. Alain Desrosières, „Les origines statisticiennes de l’économie des conventions: réflexivité et expertise“, Œconomia, Jg. 1, Heft 2, 2011, S. 299–319).]

7 Ted Porter, Trust in Numbers. The Pursuit of Objectivity in Science and Public Life, Princeton, Princeton University Press, 1995.

8 Auch zahlreiche „Sozialisten“ unterstützen diese „szientistische“ Lesart in einer Art und Weise, die heute erstaunt. Sie fand sogar in der Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre Anklang. Daniel J. Kevles, Au nom de l’eugénisme. Génétique et politique dans le monde anglo-saxon, Paris, Presses universitaires de France, 1995.

9 Maurice Halbwachs wird diese Studien in seiner Habilitationsschrift zur Arbeiterklasse und ihren Lebensbedingungen (La classe ouvrière et les niveaux de vie, 1913) umfassend nutzen (und loben).

10 Dieses weitgehend unbekannte Museum ist auf Betreiben von Colette Chambelland und Françoise Blum zu einem zentralen Ort der Bewahrung und der Erinnerung an die Arbeiterbewegung und ihrer Forschungen geworden. Janet Horne, Le Musée social. Aux origines de l’État providence, Paris, Belin, 2004.

11 Die Rolle der Statistik in einer libertären-föderalistischen Organisation findet sich auch im Text von Pierre Besnard, „Le fédéralisme libertaire“, 1946, http://monde-nouveau.net/spip.php?article123.

12 Der (tragische) Übergang von einer in kapitalistischen Gesellschaften konzipierten Statistik zu ihrer abweichenden Implementierung in einer sozialistischen Plangesellschaft wurde für die Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre scharfsinnig analysiert in: Martine Mespoulet, Statistique et révolution en Russie. Un compromis impossible (1880-1930), Rennes, Presses universitaires de Rennes, 2001.

13 [Anm. d. Übers.: Vgl. Luc Boltanski, „Quelle statistique pour quelle critique ?“, Statactivisme. Comment lutter avec des nombres, Isabelle Bruno, Emmanuel Didier, Julien Prévieux (Hg.), Paris, La Découverte (Zones), 2014, S. 45.]

14 Mit seiner Studie zum Streit um die „pwofitasyon“ 2009 in Guadeloupe liefert Boris Samuel eine detaillierte Untersuchung zu einem Konflikt, in dem Statistiken einerseits die Argumentation stützen, andererseits angefochten werden. Boris Samuel, La crise de 2009 en Guadeloupe. Le rôle des statistiques dans le dialogue social, Paris, Agence française du développement, 2012.

15 Les autres chiffres du chômage, http://acdc2007.free.fr.

16 Robert Salais, Nicolas Baverez, Bénédicte Reynaud, L’invention du chômage, Paris, Presses universitaires de France, 1986.

17 Vgl. Bernard Sujobert, „La société peut-elle intervenir sur le programme de la statistique publique ? Le CNIS en tant que lieu et outil d’élaboration et de confrontation des attentes sociales et des projets de la statistique publique“, Beitrag im EHESS-Seminar „Politique des statistiques“, 6. März 2012. Siehe auch seinen Beitrag: „Comment intervenir sur le programme de la statistique publique ? L’exemple des inégalités sociales“, Statactivisme. Comment lutter avec des nombres, Isabelle Bruno, Emmanuel Didier, Julien Prévieux (Hg.), Paris, La Découverte (Zones), 2014, S. 213–232, sowie den Beitrag von Pierre Concialdi im selben Band: „Le BIP40 : alerte sur la pauvreté !“, S. 199–212.

18 Parallel zum Warn- und Informationsnetz für Ungleichheit wurde jedoch 2003 eine Beobachtungsstelle für Ungleichheit (Observatoire des inégalités) geschaffen, die zehn Jahre später noch aktiv ist (www.inegalites.fr).

19 François Fourquet, Les comptes de puissance. Histoire de la comptabilité nationale et du Plan, Paris, Éditions Recherches, 1980.

20 Aude Terray, Des francs-tireurs aux experts. L’organisation de la prévision économique au ministère des Finances, 1948-1968, Paris, Comité pour l’histoire économique et financière de la France, 2002.

21 André Vanoli, Une histoire de la comptabilité nationale, Paris, La Découverte, 2002.

22 Bruno Jobert et al. (Hg.), Le tournant néolibéral en Europe. Idées et recettes dans les pratiques gouvernementales, Paris, L’Harmattan, 1994.

23 Isabelle Cassiers, Géraldine Thiry, „Au-delà du PIB : réconcilier ce qui compte et ce que l’on compte“, Regards économiques, Nr. 75, 2009, http://sites.uclouvain.be/econ/Regards/Archives/RE075.pdf.

24 Jean Gadey, Florence Jany-Catrice, Les nouveaux Indicateurs de richesse, Paris, La Découverte, 2005. Siehe auch Florence Jany-Catrice, „FAIR, le forum pour d’autres indicateurs de richesse“, Statactivisme. Comment lutter avec des nombres, Isabelle Bruno, Emmanuel Didier, Julien Prévieux (Hg.), Paris, La Découverte (Zones), 2014, S. 233–246.

25 Isabelle Bruno, À vos marques, prêts… cherchez ! La stratégie européenne de Lisbonne, vers un marché de la recherche, op. cit.; Wendy Espeland, Michael Sauder, „Rankings and Reactivity. How Public Measures Recreate Social Worlds”, American Journal of Sociology, Jg. 113, Heft 1, 2007, S. 1–40.

26 #indignés ! D’Athènes à Wall Street, échos d’une insurrection des consciences, textes rassemblés par la revue Contretemps, Paris, La Découverte, 2012.

27 Meinen Dank an Cécile Brousse, die die Entwicklung von den akademischen Arbeiten zum politischen Motto rekonstruiert hat.

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Elektronische Referenz

Alain Desrosières, « Die Statistik: Instrument der Befreiung oder Instrument der Macht? », À propos [Online], 1 | 2025, online gestellt am 20 janvier 2025, aufgerufen am 05 décembre 2025. URL : https://www.ouvroir.fr/apropos/index.php?id=183

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Alain Desrosières

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